Eisenkinder
Hochhaussiedlung am Rande der Stadt ankam. Ringsherum stand ein Riegel grauer Plattenbauten neben dem anderen, acht, neun Stockwerke, vor dem Aldi tranken Frauen mit kaputten Gesichtern morgens ihr Bier. Es war ein bisschen wie im Osten. Ich fühlte mich sofort heimisch.
Als ich Ruth das erste Mal getroffen hatte, ging es um satanische Musik. Sie hatte mir empfohlen, mich von The Sisters of Mercy zu trennen.
Ihr Vater war ein evangelikaler Pastor, sie hatte nie gegen den Glauben ihrer Eltern rebelliert. Der Glaube an die Wahrheit der Bibel war für sie ein Naturgesetz, so normal wie die Schwerkraft. Manchmal überbrachte ihr Jesus Botschaften in ihren Träumen.
In der Zwischenzeit schleppte sie Kinder aus den Hochhaussiedlungen an, denen sie bei den Hausaufgaben half und deren Sorgen sie anhörte.
Ich war für sie auch so eine verlorene Seele, der sie ein Zuhause geben wollte. Später würden wir zusammenziehen und eine christliche Frauen- WG gründen. Sie wurde für mich wie eine große Schwester. Wir würden morgens und abends zusammen beten und alle, wirklich alle Gedanken teilen.
Zu dem Gebetskreis kamen fünf andere Frauen. Sie begrüßten sich mit Luftküsschen. Alle um die zwanzig, blond, eher kühl, der Typ Hanseatin, der Oberteile mit dem Hamburger Wappen trägt. Ihre Mütter waren ihre besten Freundinnen, man ging zusammen shoppen, tauschten Klamotten, machte gemeinsam Diät. Sie besprachen alles zusammen, selbst Liebeskummer.
Ich hatte versucht, mir meinen Dialekt von früher abzutrainieren. Ich übte die Hamburger Ausdrücke, ich sagte »Feudel« statt »Lappen« und »ich bin angefangen« statt »ich habe angefangen«. Ich wollte dazugehören, ich wollte, dass diese Frauen meine Freundinnen werden, auch wenn ich instinktiv spürte, dass ich nie ganz dazugehören würde.
Ich dachte an meine Mutter, mit der ich selten telefonierte. Ich erzählte wenig von mir, die Entfernung schien immer größer zu werden. Je weniger sie wusste, desto weniger würde sie nachfragen. Einmal in fünf Jahren besuchte sie mich in Hamburg. Als wir in einen Bus gestiegen waren, hatte sie einmal laut aufgeschrien: »Ein Neger!« Sie hatte noch nie einen Schwarzen gesehen. Alle Augen richteten sich auf uns. So fühlte es sich zumindest an. Ich liebte meine Mutter, aber in dem Moment hätte ich am liebsten so getan, als ob wir uns nicht kennten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass den Westdeutschen ihre Eltern jemals peinlich waren.
Wir saßen auf einem gemusterten Sofa in Ruths Wohnzimmer, auf dem Tisch stand Früchtetee. Ruth hatte eine dicke Bibel vor sich liegen. Wir kamen zusammen, um über Jesus zu reden, landeten aber oft bei anderen Fragen. Der Gebetskreis war ein bisschen wie Sex and the City . Ohne Sex.
Ein Mädchen, das sich nie schminkte, lange Röcke trug und Lehrerin werden wollte, räusperte sich und stellte eine Frage. Sie wollte wissen, ob es gottgefällig sei, Mascara zu tragen?
Wir schlugen erst in der Bibel nach. Wir schlugen immer erst in der Bibel nach, um herauszufinden, wie man als Frau zu leben hat. Es gab in der Ausgabe, die ich besaß, ein Verzeichnis mit Schlagwörtern von A wie Abraham bis Z wie Zweifel.
Wir ignorierten, dass die Bibel sich in weiten Teilen widersprach und dass man für jedes Zitat ein Gegenzitat finden könnte. (Johannes 14, 27: »Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.« Matthäus 10, 34: »Ihr sollt nicht glauben, dass ich gekommmen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.«)
Die Abschnitte, die uns nicht gefielen, überlasen wir. Wie zum Beispiel die Stellen, wenn Väter ihre Töchter verkauften oder Vergewaltigungsopfer ihre Peiniger heiraten mussten. »Das muss man im Kontext der Zeit verstehen«, lautete die Standardantwort darauf. Andere Stellen, wie die Vorschrift, sich sittsam zu kleiden, wurden allerdings nicht nur im Kontext der Zeit verstanden.
Miniröcke, tiefe Ausschnitte und grelle Farben waren für uns tabu. Unter M wie Mascara gab es natürlich keinen Eintrag. Dafür fanden wir unter »Schmuck« mehr als ein Dutzend Hinweise, zu »Halskette«, »Fingerring«, »Ohrring«.
Wir diskutierten kurz, ob man Ohrringe und Mascara vergleichen konnte, und entschlossen uns schließlich, dass Mascara sogar noch dezenter als Schmuck war. Wenn Gott Ohrringe akzeptiert, kann er nichts gegen Wimperntusche haben. Solange sie schwarz ist und unauffällig. Die angehende Lehrerin wirkte
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