Eisenkinder
erleichtert.
Nicht alle Fragen waren so harmlos. Ein Mädchen, das immer besonders schick gekleidet war, geföhnte Haare, Halstuch, gebügelte Bluse, fragte, ob Blowjobs schon als Geschlechtsverkehr galten. Sie sprach mit einer mädchenhaften, hohen Stimme, das Wort Blowjob klang bei ihr völlig harmlos. Ihre Freundin flüsterte, typisch. Offenbar provozierte das Halstuch gern. Ruth wurde bleich. Sie war die Älteste hier, fühlte sich verantwortlich. Wie würde sie mit dieser heiklen Frage umgehen?
Ich saß meistens still in diesen Runden und hörte zu. Ich versuchte mir alles einzuprägen, was ich hörte, um so viel wie möglich über diese neue Welt zu lernen. Ich wollte alles richtig machen. Ich musterte Ruths Wohnzimmer. Es hatte etwas Klösterliches, wohin man auch schaute, bekam man Zuspruch. An den Wänden hingen überall Bibel- und Erbauungssprüche. Blowjob . Das Wort, das das Halstuch-Mädchen benutzt hatte, passte nicht hierher, es war, als hätte jemand ein Bild eines nackten Mannes aufgehängt.
Das Mädchen, das die Frage gestellt hatte, bat um Verständnis und erläuterte sein Dilemma. Sie hatte einen Freund, sie würde in einem Jahr heiraten. Ihr Freund wäre ungeduldig, aber sie wollte ihre Jungfräulichkeit nicht gefährden. Sie war hin- und hergerissen, welche Bibel-Regel galt: Sollte sie sich ihrem Freund unterordnen oder enthaltsam leben? Sie wollte uns um Rat bitten, bevor sie etwas Falsches machte.
Die Meinungen, was Gott von Blowjobs hielt, gingen auseinander. Die einen sagten, Oralsex sei erlaubt. Ruth war skeptisch und ich auch. Es gab eine klare Anweisung: Kein Sex vor der Ehe. Und Oralsex war Sex, wenn man nicht gerade Bill Clinton hieß, der zu jener Zeit eine Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky unterhielt, die aber erst Jahre später herauskommen sollte. Ich hatte keinerlei sexuelle Beziehungen zu dieser Frau, hatte er gesagt. Das Mädchen mit dem Halstuch suchte Ausflüchte, wie Clinton.
Die Gesetze der Bibel waren über zweitausend Jahre alt, sie hatten alle möglichen Brüche überstanden, Kriege, Revolutionen, Spott. Warum konnte sich das Mädchen mit dem Halstuch nicht an die Regeln halten, warum musste sie Gott austricksen?
Ruth, die Älteste, schlug in der Bibel nach und fand eine obskure Stelle in dem Lied des Salomon, in dem von einer Braut und einem verschlossenen Garten die Rede ist. Der Garten musste verschlossen bleiben, das war etwas blumig formuliert, schien aber die Frage zu beantworten. Gott hatte also nichts gegen Oralsex. Er war offenbar flexibler als ich. Ich strich mir danach die Stelle mit einem Marker pink an. Wir redeten uns ein, dass die Bibel ein Selbsthilfe-Buch ist, das uns in allen Fragen Orientierung gibt.
Wir hätten auch eine Münze werfen können, um zu entscheiden, ob Oralsex biblisch war oder nicht, das wäre von ähnlicher Überzeugungskraft gewesen.
Die Gebete funktionierten immer nach dem gleichen Prinzip. Es war am Anfang wichtig, Gott ausgiebig zu danken, um dem Vorwurf der Eitelkeit und der Selbstbezogenheit zu entgehen. Wir beteten darum, dass Gott unsere Beschlüsse absegnet. Manchmal ging es um profane Dinge, die nächste Klausur, Ärger mit dem Chef, und manchmal um Größeres.
Ein Mädchen, Nadja, hatte ein Problem, über das wir öfter redeten, das sich auch durch intensives Beten nicht lösen wollte. Sie lebte nicht nur unverheiratet mit einem Nicht-Christen zusammen, sie schlief auch noch mit ihm.
Das Teelicht, das den Früchtetee wärmte, flackerte, als sie erzählte, dass sie es nicht schaffte, ihn wegzuschicken. Sie fühlte sich schlecht dabei, sagte sie. Ich lehnte mich zurück und fixierte Nadja. Sie hatte zwei Regeln gebrochen. Ich spürte, wie eine Wut in mir hochkam, die alle vernünftigen Gedanken wegwischte, als wären sie mit Kreide auf einer Tafel geschrieben.
Ich wurde wütend auf Nadja, doch es ging um viel mehr als nur darum, dass sie die Regeln gebrochen hatte. Der Sex war nur ein Symbol für das westliche Wertesystem, das die sofortige Befriedigung aller Wünsche und Bedürfnisse versprach.
Im Osten waren wir Weltmeister im Warten gewesen. Wir warteten dauernd auf irgendwas. Auf das West-Paket, auf den Kühlschrank, auf das Auto, das vor 15 Jahren bestellt wurde. Wir hatten wenig, aber das, was wir hatten, behandelten wir sorgsam. Heute, nachdem auch der Kapitalismus in die Krise geraten ist, nennt man das Nachhaltigkeit.
Die neunziger Jahre waren anders, dekadent, hedonistisch. Jeder Hunger musste
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