Eisenkinder
standen am Anfang ihres Lebens, und ich sollte ihnen vom Tod erzählen und von der Hölle. Ich ließ das Galgenmännchen aus und stellte Jesus mehr als unsichtbaren Freund dar, der immer mit ihnen reden würde.
Am Ende stellte ich noch die Frage, wer Jesus sein Leben übergeben möchte. Es war der Moment, auf den ich gewartet hatte, doch er fühlte sich künstlich an, so dass ich hinterherschob: Ihr müsst euch nicht heute entscheiden. Larissa betete für die Kinder, ich verteilte Traktate, in denen die Geburt von Jesus auf Russisch und mit vielen Bildern nacherzählt wird.
Ich sah die großen ängstlichen Gesichter und wartete darauf, dass wenigstens einer etwas fragen oder Faxen machen würde, wie man das als Kind so macht. Aber bei den kleinen Russen gab es keinen Klassenclown. »Disziplin ist die wichtigste Tugend«, erklärte uns die Lehrerin später, »das geht uns in Russland gerade verloren, es wird bei uns wie bei euch im Westen, alles wird lockerer, niemand strengt sich mehr an.« Mir war unangenehm, dass sie mich als Vertreterin des verlotterten westlichen Systems wahrnahm. Habt ihr Brot mitgebracht, flüsterte ein Mädchen beim Herausgehen.
Was würden die Kinder von diesem Nachmittag mitnehmen? Würden sie sich jemals daran erinnern, dass zwei religiöse Rockträgerinnen in ihr Dorf gekommen waren? Ich schämte mich dafür, hungrige Kinder indoktriniert zu haben. Irina aus der Stadt war auch erst 15, aber mit 15 war man schon fast erwachsen. Ich erinnerte mich zu gut daran, wie ich selbst indoktriniert wurde, und kam mir so nutzlos vor, mit meiner Gitarre, meinen Bibeln und meinen Traktaten. Ich fragte später, warum wir keine Lebensmittelspenden mitgebracht hatten, doch die Finnen erwiderten, dass das den Regeln widerspräche. Es ginge darum, Seelen vor der ewigen Vergänglichkeit zu retten.
Wer sich in gesellschaftliche Fragen einmischt und Ungerechtigkeiten auf Erden lindern will, durch Umweltschutz, durch Programme gegen Armut, gilt unter evangelikalen Christen schnell als Liberaler, als falscher Gläubiger.
Wenn ich zurückdenke, überlagert diese enttäuschende Episode den ganzen Tag, ich kann mich nicht erinnern, wie er weiter verlief und wie wir in die Stadt am Onegasee zurückkamen.
Ich war wütend, ich wusste nicht genau auf wen, auf Gott, auf die drei Finnen, auf mich selbst. Was auch immer ich in Russland gesucht hatte, Erlösung, Vergangenheitsbewältigung, ich würde es nicht finden.
Danach verbrachten wir die nächsten zwei Wochen nur in Petrosawodsk. Manchmal nahmen uns die Männer auf ihre Ausflüge mit, aber wir mussten keine Kinder mehr bekehren, sondern nur Tee aus dem Samowar trinken.
Larissa und ich gaben es auf, an Türen zu klopfen. Wir entdeckten eine russische Sauna in der Nähe des Hochhauses und verbrachten die meiste Zeit in der Banja.
Das verbotene Date
Meine Wochen in Russland gingen am Schluss schnell vorüber. Larissa nahm mich mit nach St. Petersburg, dort würde sie die nächsten zwölf Monate als Missionarin verbringen. Gemeinsam mit anderen jungen Frauen teilte sie sich eine Wohnung am Stadtrand, die etwas luxuriöser ausgestattet war als unsere Wohnung in Petrosawodsk. Bevor sie mit ihrer Arbeit weitermachte, hatte sie ein paar Tage frei, um mit mir die Stadt zu erkunden. Wir standen in der Eremitage und schauten uns Bilder von El Greco, Matisse und Renoir an. Wir besuchten den Panzerkreuzer Aurora , mit dem 1917 die Oktoberrevolution in Russland begann. Wir aßen Blini mit Kaviar in einem Restaurant an der Newa. Zum Abschied betete Larissa für mich, sie bat Gott, dass er mich bald nach Russland zurückschickte. Ich dankte ihr, doch ich ahnte, dass ihr Gebet vergeblich war.
Zu Hause in Hamburg packte ich den Koffer aus, legte die langen Röcke weg und ging einkaufen.
Als ich die vollen Regale im Supermarkt sah, fand ich es wider Erwarten gar nicht so unangenehm, die Wahl zwischen fünf verschiedenen Sorten Kaffee zu haben.
Im Fernsehen liefen Sondersendungen. Helmut Kohl feierte sein Amtsjubiläum. Seit 1982 regierte er als Kanzler – mit 14 Jahren Amtszeit übertraf er den Rekord des konservativen Übervaters Konrad Adenauer. Sie nannten ihn den Kanzler der Einheit. Sie überschlugen sich mit Ehrerbietungen, als hätte er selbst die Mauer zum Einsturz gebracht. Die Ostdeutschen wurden nicht mehr gebraucht. Ich schaltete den Fernseher aus. Ich versuchte mein normales christliches Leben wieder aufzunehmen, morgens eine Andacht halten, die Bibel lesen,
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