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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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Finnen kamen, ging sie in die Küche hinüber und unterhielt sich lange in ihrer merkwürdigen Sprache. Ich stellte mir vor, dass sie sich über mich lustig machten. Die schlechteste Missionarin, die sie je hatten. Ich wurde langsam paranoid.
    Nachts hatte ich Alpträume, von russischen Soldaten, die das Haus meiner Eltern überfielen.
    Es war ein bekannter Traum, den ich früher als Kind oft gehabt hatte. In dem Traum sah ich durch das Fenster der Küche, wie eine Kolonne von Panzern und Soldaten aus dem Wald auf das Haus zurückte, meine Eltern versteckten sich im Keller und ich hörte ihre Stimmen, aber ich konnte mich nicht bewegen.
    An dem Abend, an dem wir Irina besuchten, war ich besonders aufgeregt. Sie wohnte in einem anderen Block, ein paar Straßen weiter. Schon im Hausflur roch es nach Urin, überall lag Müll herum. Wir stiegen die Treppen hinauf, Irina wartete mit Hausschuhen in der Hand.
    Es war einer jener russischen männerlosen Haushalte, von denen es viele gab. Irina lebte mit Mutter und Oma sowie einem jüngeren Bruder zusammen, die Eltern waren geschieden. Die Scheidungsrate in Russland war damals schon sehr hoch, die Hälfte aller Ehen wurde geschieden, in den Städten war die Rate noch höher.
    Der Tisch im Wohnzimmer bog sich unter Delikatessen, die ich in keinem Geschäft gesehen hatte, eingelegter Fisch, Salat, Gurken, Pasteten. Ich aß und aß, bis mein Magen schmerzte. Und danach sagte die Oma, komm, Kindchen, greif zu, du hast ja noch nichts angerührt.
    Die Oma wollte wissen, woher aus Amerika ich komme.
    Sie hatte wahrscheinlich noch das Ende des Großen Vaterländischen Krieges miterlebt, wie die Russen den Ostfeldzug nennen, hatte vielleicht Angehörige verloren. Was es wohl in ihr auslöste, wenn sie erfuhr, dass ich Deutsche war, keine Amerikanerin, wie Larissa?
    Der Großvater war Teil der Armee, die ihr Land unterwerfen wollte, war bei der großen Doppelschlacht von Wjasma und Brjansk mit dabei, und jetzt kommt die Enkelin und versucht mit anderen Methoden, das zu erreichen, was der Opa nicht geschafft hat?
    Is Germanyi, sagte ich schüchtern.
    Die Oma musterte mich. Suchte sie nach Spuren, nach Hinweisen auf mein düsteres Erbe? Die Enkelin der Kriegsverbrecher-Generation?
    Aber dann fragte sie nur: Ost oder West? West, wollte ich sagen, aber dann blieb ich doch bei der Wahrheit.
    Die Oma schaute mich zu Recht aufmunternd an, als wollte sie sagen, komm, ist doch nicht schlimm.
    Sie hatte gehört, dass die Taxis in Deutschland von der Marke Mercedes sind. Daraus schloss sie, dass alle Deutschen in Mercedessen herumfuhren. In Ost und West. Meine Ver-
suche, die Lage etwas anders darzustellen, prallten an ihnen ab.
    Irina und ihre Familie hatten von den Autobahnen gehört, den sauberen Straßen, den zuverlässigen Beamten, der Ordnung, es gefiel ihnen gut. Ich versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und stellte meinen Missionars-Autopilot an: Noch geht es euch schlecht, aber wenn ihr Jesus in eurer Leben lasst, wird es euch besser gehen. Differenzierter konnte ich mich auf Russisch nicht ausdrücken.
    Aber ich wurde immer wieder unterbrochen. Wie viel verdienst du, wollte die Oma als Nächstes wissen.
    Ich bekam 600 Mark Bafög. 600 Mark im Monat war viel Geld für eine russische Familie, selbst wenn ich beteuerte, dass es sich um einen Kredit handelte. Mit 600 Mark im Monat gehörte man in Petrosawodsk zu den Reichen. Ich merkte, wie sich der Blick auf mich änderte, ich wünschte, ich hätte nichts gesagt. Irinas Mutter verdiente umgerechnet etwa 100 Mark als Verkäuferin, ihre Oma bekam rund 50 Mark Rente.
    Ich fragte, wie sie über die Runden kommen. Die Oma erzählte, dass sie Gemüse anbaute, Kartoffeln, Rote Beete, Zwiebeln. Irgendwann stand eine Flasche Wodka auf dem Tisch. Ich hatte mich verpflichtet, keinen Alkohol zu trinken. Eigentlich sollte ich den Russen auf das, vor dem sie in den Wodka flüchteten, eine andere Antwort geben.
    Aber die Missionsgesellschaft und die drei Finnen waren weit weg, wir tranken ein Glas und noch ein Glas und noch ein Glas. Es wurde ein lustiger Abend, an dem viel gelacht wurde. Von Jesus sprachen wir nicht mehr.
    Am nächsten Tag kam ich mir wie eine Versagerin vor. Ich dachte an das Galgenmännchen, Skizze vier der Turbo-Evangelisation: Die Missionsgesellschaft musste sehr enttäuscht von mir sein. Ich erzählte Larissa von meinen Zweifeln, die mich nach ein paar Wochen in Petrosawodsk plagten. Ich sehnte mich nach

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