Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
Vom Netzwerk:
Jugendgottesdienste organisieren, Predigten hören.
    Doch etwas hatte sich verändert.
    Die Reise fühlte sich schon wenige Tage nach meiner Rückkehr unwirklich an.
    Meine Freunde wollten wissen, wie es gewesen war, wie viele Leute ich bekehrt hatte, aber ich wich aus. Sollte ich die Wahrheit sagen?
    Wie soll das schon gewesen sein, durch eine russische Stadt zu ziehen mit nichts anderem im Gepäck als der Parole: Hört auf Wodka zu trinken, ich hätte hier eine tolle Religion für euch . Ich hatte an hundert Türen geklopft und immer nur ein Njet gehört. Die Russen wollten keinen Heiland. Sie wollten einen Mercedes.
    Ich schien besiegt, fühlte mich geschlagen, wieder. Von wem eigentlich? Was war das für ein Kampf, den ich unbewusst führte? War es der Kampf, den mir mein Vater mit 19 als Lebensinhalt prophezeit hatte? Gegen wen kämpfte ich, wer war mein Feindbild? Die Russen? Die Westdeutschen? Ihr Kapitalismus?
    Es war nicht mein Kampf, es war ein Kampf, der lange vor meiner Zeit begonnen hatte. Es war, als müsste ich die Demütigung, die meine Eltern und ihre Generation erlebt hat-
ten, wiedergutmachen, indem ich mich stellvertretend den neuen Werten verweigerte, aus einer Solidarität heraus, die weder eingefordert worden war, noch als solche verstanden wurde.
    Ich hatte keine Bomben gezündet, ich hatte Bibeln in Russland verteilt und von Jesus erzählt. Ich wollte etwas erreichen. Aber was genau?
    Was ich als Niederlage erlebte, war für die Missionsgesellschaft ein Erfolg. Ich erhielt einen Brief, in dem ich gefragt wurde, ob ich mir ein Langzeit-Engagement vorstellen könnte. Der Brief lag ein paar Wochen auf meinem Schreibtisch, ohne dass ich ihn anguckte. Wie eine Rechnung, deren Bezahlung ich hinausschob. Vor der Russland-Reise hatte ich mir vorstellen können, dass es meine Berufung wäre, Missionarin zu werden. Ich war bereit gewesen, alles aufzugeben. Jetzt kam mir das ziemlich verrückt vor. Mein Einsatz war zu Ende, und es würde keinen zweiten geben. Ich würde nie wieder nach Russland zurückkehren, jedenfalls nicht als Missionarin. Das wusste ich damals schon, auch wenn ich es mir noch lange nicht eingestehen wollte.
    Eines Tages nahm ich den Brief der Missionsgesellschaft, zerknüllte ihn und warf ihn weg. In die Erleichterung mischten sich schreckliche Zweifel: Wenn ich in dieser wichtigen Frage Gott falsch interpretiert hatte, wo hatte ich ihn sonst missverstanden? Woher wusste ich, dass Gott mit mir redete? Machte ich mir etwas vor?
    Ich versuchte, die Gedanken zu verdrängen.
    Meine Freundin Billy, die in Zungen betete und sonst im schwäbischen Dialekt sprach, warnte, der Teufel ginge herum und säe Zweifel in unseren kleinen Sünderseelen. Solche Sätze hatten mich vor einem Jahr noch beeindruckt, aber inzwischen klangen sie albern. Ich fühlte mich nicht ernst genommen. Billy erinnerte mich an die Direktorin meiner Schule, die jede Diskussion abgeblockt hat. Sie hätte wohl auch als Parteisekretärin vor zehn Jahren gut funktioniert. Sie hätte »Teufel« nur durch »Klassenfeind« ersetzen müssen.
    Wer über Glaubenszweifel oder Fragen sprach, musste kein Tribunal fürchten oder eine plötzliche Verhaftung. Der Druck funktionierte unendlich viel feiner. Woche für Woche wurde den Gläubigen eingetrichtert, dass Zweifel, vereinfacht gesagt, nur dazu da waren, überwunden zu werden. Wem das nicht gelang, der glaubte nicht genug. Schuld an Misserfolgen war nicht Gott, sondern der Einzelne.
    Je länger ich dabei war, desto mehr glaubte ich die Argumentation zu durchschauen. Ich sah die Gottesdienste in der Anskar-Kirche mit anderen Augen.
    An einem Abend ging ein Mann nach vorn, bedächtiger Typ, Brille, Schnauzer. Er erzählte von einem schweren Unfall, den er vor Jahren hatte und bei dem er sich einen Schädelbasisbruch zuzog. »Mein Unfall steht in der Bibel«, erklärte der Mann eine Spur zu pathetisch und zeigte auf sein Buch. Er meinte einen Satz des Propheten Hesekiel: »Du sollst leben.« Ein Allerweltssatz, den der Mann auf sich bezog, um daraus Trost zu ziehen. Er erholte sich tatsächlich von seinen schweren Verletzungen. »Der Patient, der neben mir auf der Intensivstation lag, ist tot«, sagte der Mann, der sich auserwählt fühlte.
    Kaum hatte er zu Ende gesprochen, klatschten die Zuhörer begeistert. Alles Gefällige wurde mit Applaus bedacht.
    Am Anfang hatte mir dieser dauernde Zuspruch gefallen, jetzt empfand ich die permanente Bestätigung als künstlich,

Weitere Kostenlose Bücher