Eisfieber - Roman
Eingangstoren die Angestellten, die zu ihren Arbeitsplätzen wollten. Sie umringten Fahrräder und Privatfahrzeuge, hielten den Firmenangehörigen Kameras und Mikrofone vor die Nasen und schrien ihnen Fragen zu. Die Werkschutzleute gaben sich alle Mühe, die Medienmeute vom normalen Berufsverkehr zu trennen, konnten dabei aber auf keinerlei Kooperation seitens der Journalisten zählen. Schlimmer noch: Eine Gruppe von Protestierern für die Rechte der Tiere nutzte die Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen, und demonstrierte vor den Kremltoren mit Spruchbändern und Protestsongs. Und da es sonst nicht viel zu filmen gab, konzentrierten sich die Kameraleute auf die Tierschützer. Toni Gallo beobachtete die Szene mit einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit.
Sie befand sich in Stanley Oxenfords Büro, einem großen Eckzimmer, das einst dem Hausherrn als Schlafzimmer gedient hatte. Stanley arbeitete in einer Umgebung, die Altes und Neues miteinander verband: Sein Computerterminal war auf einem zerkratzten Holztisch installiert, der schon seit dreißig Jahren in seinem Arbeitszimmer stand, und auf einem Seitentisch stand ein Mikroskop aus den Sechzigerjahren, das er immer wieder gern benutzte. Zurzeit war das Mikroskop von Weihnachtskarten eingerahmt, darunter auch eine von Toni. An der Wand hing ein viktorianischer Stich mit dem Periodensystem der Elemente neben dem Foto eines bildhübschen schwarzhaarigen Mädchens im Hochzeitskleid – Stanleys verstorbener Frau Marta.
Stanley erwähnte seine Frau oft. »Kalt wie eine Kirche, wie Marta immer zu sagen pflegte … – Als Marta noch lebte, sind wir jedes Jahr nach Italien gereist … – Marta liebte Schwertlilien …« Aber von seinen Gefühlen für seine Frau hatte er bisher nur ein einziges Mal gesprochen, damals, als Reaktion auf Tonis Bemerkung, wie schön Marta auf dem Foto aussehe. »Der Schmerz lässt nach, aber er vergeht nicht«, hatte er gesagt. »Ich glaube, ich werde bis an mein Lebensende jeden Tag um sie trauern.« Toni hatte sich daraufhin gefragt, ob jemals ein Mensch sie so lieben werde, wie Stanley seine Marta geliebt hatte.
Jetzt stand er neben Toni am Fenster, und ihre Schultern berührten einander fast. Mit Entsetzen sahen sie, wie immer mehr Volvos und Subarus auf dem mit Gras bewachsenen Randstreifen vor den Toren hielten und wie die Menge immer lauter und aggressiver wurde.
»Es tut mir wirklich furchtbar Leid«, sagte sie unglücklich.
»Ist ja nicht Ihre Schuld.«
»Ich weiß, kein Selbstmitleid mehr, haben Sie gesagt … Aber erst lasse ich zu, dass ein Versuchskaninchen durch meine Sicherheitskontrollen geschmuggelt wird, und dann ist es ausgerechnet mein verdammter Ex-Partner, der diesen Carl Osborne vom Fernsehen informiert.«
»Sie haben offenbar Probleme mit ihrem Ex.«
Toni hatte mit Stanley niemals offen über Frank gesprochen. Doch nun, da Frank sich in ihr Berufsleben eingemischt hatte, war sie im Grunde sogar froh über die Gelegenheit, das Thema anschneiden zu können. »Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, warum Frank mich so hasst«, sagte sie. »Die Trennung ging nicht von mir aus, im Gegenteil: Er hat mich verlassen – und das zu einem Zeitpunkt, als ich seine Hilfe und seine moralische Unterstützung dringend gebraucht hätte. Man sollte eigentlich meinen, er hätte mich längst genug gestraft für alles, was ich in seinen Augen jemals falsch gemacht habe. Aber jetzt fällt er mir schon wieder in den Rücken!«
»Das ist doch verständlich. Sie sind für ihn ein ständiger, unausgesprochener Vorwurf. Jedes Mal, wenn er Sie sieht, wird er daran erinnert, wie schwach und feige er sich benommen hat, als Sie ihn damals brauchten.«
Auf diesen Gedanken war Toni im Zusammenhang mit Frank noch nie gekommen, doch damit ließ sich sein Verhalten in gewisser Weise erklären. Dankbarkeit durchflutete sie. Sorgfältig darauf bedacht, nicht zu viel Gefühl zu zeigen, sagte sie: »Das klingt sehr plausibel.«
Stanley zuckte mit den Schultern. »Jenen, denen wir unrecht getan haben, können wir niemals vergeben.«
Toni musste bei diesem Paradox grinsen. Stanley kannte sich mit Menschen ebenso gut aus wie mit Viren.
Er legte ihr sachte eine Hand auf die Schulter – war das nur eine aufmunternde Geste, oder hatte es mehr zu bedeuten? Stanley Oxenford vermied gemeinhin jeden direkten Körperkontakt mit seinen Angestellten. In dem einen Jahr ihrer Bekanntschaft hatte Toni genau drei Mal seine Berührung gespürt: Beim ersten
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