Eisfieber - Roman
sie mitten in eine fröhliche Party geraten, auf der sie niemanden kannte. Sie hätte gerne mitgemacht, fühlte sich aber ausgeschlossen. Das ist Stanleys Leben, dachte sie. Er und seine Frau hatten eine Familie gegründet und diese Wärme, dieses gemütliche Heim geschaffen. Sie bewunderte ihn dafür, und sie beneidete seine Kinder. Wahrscheinlich war ihnen überhaupt nicht bewusst, wie privilegiert sie waren. Minutenlang hatte Toni ebenso fasziniert wie verwirrt dagestanden. Kein Wunder, dass Stanley so sehr an seiner Familie hing.
Sie fand die Situation aufregend – und verzweifelte schier an ihr. Es wäre ihr, wenn sie es sich erlaubt hätte, nicht schwer gefallen, sich in einer Fantasie zu verlieren: sich selbst als Teil dieser Gruppe zu sehen, neben Stanley sitzend als seine Ehefrau, voller Liebe für ihn und seine Kinder, wohlig eingebettet in die Behaglichkeit ihrer Gemeinschaft. Aber sie unterdrückte den Wachtraum. Es war unmöglich, und zur Selbstquälerei bestand kein Anlass. Gerade die Stärke der familiären Bindungen war es, die dafür sorgen würde, dass sie, Toni, außen vor blieb.
Als man sie endlich bemerkte, spürte sie die kritischen Blicke Olgas und Mirandas, der beiden Töchter. Es war eine sorgfältige Prüfung: detailliert, unverfroren, feindselig. Etwas diskreter, wenngleich nicht unähnlich, musterte sie Lori, die Köchin.
Toni verstand diese Reaktion. Dreißig Jahre lang hatte Marta in dieser Küche das Regiment geführt. Sie hätten sich Marta gegenüber illoyal gefühlt, wenn sie Toni nicht mit Ablehnung begegnet wären. Jede Frau, die Stanley mochte, konnte zur Bedrohung werden und die Familie entzweien. Eine »Neue« konnte Vaters Überzeugungen und Verhaltensweisen ändern und seine Zuneigung in eine andere Richtung lenken. Sie konnte ihm sogar noch Kinder gebären – Halbbrüder und Halbschwestern, die sich den Teufel um die Traditionen der ursprünglichen Familie scherten und mit den anderen nicht durch die unzerreißbaren Ketten einer gemeinsam erlebten Kindheit verbunden waren. Sie würden Ansprüche auf einen Teil des Erbes erheben, vielleicht sogar auf das gesamte.
Ob Stanley diese heimlichen Widerstände spürte? Toni folgte ihm in sein Arbeitszimmer, und einmal mehr überkam sie dieses frustrierende Gefühl der Unwissenheit: Sie hatte keine Ahnung, was in seinem Kopf vorging.
Es war ein sehr maskulin wirkender Raum mit einem viktorianischen Säulenfuß-Schreibtisch, einem Bücherregal mit gewichtiger mikrobiologischer Fachliteratur und einer abgewetzten Ledercouch vor einem offenen Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte. Der Hund war hinter ihnen her getappt und streckte sich nun vor dem Feuer aus wie ein lockiger schwarzer Läufer. Auf dem Kaminsims stand ein gerahmtes Foto von einem dunkelhaarigen Teenager in weißem Tennisdress – es war das gleiche Mädchen wie auf dem Brautbild in Stanleys Büro bei Oxenford Medical. Die kurzen Shorts zeigten lange, athletische Beine. Das starke Augen-Make-up und das Haarband verrieten Toni, dass das Bild in den Sechzigerjahren entstanden war. »War Marta auch Naturwissenschaftlerin?«, fragte sie.
»Nein, sie hatte Englisch studiert. Als wir uns kennen lernten, unterrichtete sie Italienisch für Fortgeschrittene an einem Gymnasium in Cambridge.«
Toni war überrascht. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass Marta Stanleys Leidenschaft für seinen Beruf geteilt habe. Man muss also nicht unbedingt in Biologie promoviert haben, um von ihm geheiratet zu werden, dachte sie und sagte: »Sie war sehr hübsch.«
»Hinreißend, ja«, erwiderte Stanley. »Schön, groß, sexy, Ausländerin, eine Teufelin auf dem Tennisplatz und eine Herzensbrecherin außerhalb desselben. Ich war wie vom Blitz getroffen. Fünf Minuten nachdem ich sie kennen gelernt hatte, war ich rettungslos in sie verliebt.«
»Und Marta auch in Sie?«
»Das dauerte länger. Sie wurde ja von vielen Bewunderern umschwärmt. Ich habe nie begriffen, warum sie sich am Ende für mich entschieden hat. Sie hat immer gesagt, sie könne einem intellektuellen Eierkopf nicht widerstehen.«
Das wundert mich nicht, dachte Toni. Marta hatte gefallen, was Toni selbst gefiel: Stanleys Stärke. Bei ihm wusste man sofort, woran man war: Er war ein Mann, bei dem Wort und Tat übereinstimmten, einer, auf den man sich verlassen konnte. Hinzu kamen andere Vorteile: Er war warmherzig und klug – und wusste sich sogar geschmackvoll zu kleiden.
Aber was empfinden Sie jetzt , wollte sie ihn
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