Eisige Naehe
Mutter und ihrer Schwester herzlich umarmt.
Sie war glücklich, als sie sich auf den Weg nach Hause machte, denn sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als den Rest ihres Lebens mit Hans Schmidt zu verbringen, obwohl sie wusste, die Wahrscheinlichkeit, dass er vor ihr sterben würde, war groß. Sehr groß. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Es war noch früher Nachmittag und sie nur noch wenige hundert Meter von zu Hause entfernt, als sie beschloss, einen Ausflug nach Estoril zu machen, einem mondänen und doch pittoresken Küstenort etwa fünfundzwanzig Kilometer westlich von Lissabon. Sie wollte sich das Haus ansehen, das Hans Schmidt erst vor einem Monat gekauft hatte und das er gerade umbauen ließ. Sie hatte die Musik im Auto laut aufgedreht, das Schiebedach und beide Seitenfenster waren geöffnet, ihre Haare wehten im Fahrtwind. Sie fuhr schnell, schneller als erlaubt, denn sie wollte spätestens um achtzehn Uhr wieder zu Hause sein, um den Abend mit ihrem zukünftigen Mann zu verbringen. Das Ortsschild war bereits in Sichtweite, als wie aus dem Nichts ein Lkw aus einer Seitenstraße kam. Der Fahrer missachtete die Vorfahrt, Maria trat mit aller Kraft auf das Bremspedal und versuchte auszuweichen, doch es war zu spät. Sie raste unter die Ladefläche, der obere Teil des Wagens wurde bis zur Motorhaube abgerissen. Sie hatte keine Chance gehabt.
Laut Polizei war Maria auf der Stelle tot gewesen. Der Fahrer, ein älterer Mann, war angetrunken und wurde noch an der Unfallstelle festgenommen. Als Hans Schmidt von Marias Tod erfuhr, wurde alles in ihm zu Eis. Erst als die Polizisten, die ihm die Nachricht überbracht hatten, gegangen waren, sank er zu Boden, vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte. Er war nie in der Lage gewesen, Emotionen offen zu zeigen, sein Leben war von Disziplin und Selbstbeherrschung geprägt gewesen. Er hatte unzählige Masken getragen, daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern. Er trauerte still und klagte stumm Gott und die Welt an: »Warum Maria? Warum ausgerechnet sie? Warum nicht ich? Sie hat doch niemals auch nur einem Menschen weh getan! Warum sie, warum sie, warum sie? Warum nicht ich? Warum Maria und nicht ich? Warum, warum, warum?«
Auf all diese Fragen erhielt er keine Antwort. War es Schicksal, Zufall oder Fügung, dass ausgerechnet die Frau, die er am meisten liebte, so früh sterben musste? War es die Strafe für das, was er anderen Menschen über so viele Jahre hinweg angetan hatte? Warum wurde er ausgerechnet jetzt, da er sich von seinem alten Leben verabschiedet hatte, so hart bestraft? Warum war Maria so bestraft worden? Warum ihre Eltern und Geschwister? Warum hatte Maria sich überhaupt zu dem Ausflug nach Estoril entschlossen? Sie hatten doch vorgehabt, am nächsten Tag zusammen dorthin zu fahren, um zu sehen, wie weit die Bauarbeiten gediehen waren. Warum war sie gefahren, warum hatte sie nicht warten können? Er wusste, er würde es nie herausfinden. Eins war gewiss: Er würde für den Rest seines Lebens unter diesem Verlust leiden, still und unbemerkt, wie er seit dem Tod seiner Eltern gelebt hatte.
Den Abend und die Nacht nach Marias Tod verharrte er beinahe regungslos vor dem Kamin, der nie in Betrieb genommen worden war, ein wunderschöner Kamin, so, wie Maria ihn sich gewünscht hatte. Leise Fado-Musik, traurig und melancholisch, spielte, während Hans Schmidt die vergangenen Jahre mit Maria Revue passieren ließ und sich immer wieder die quälende Frage nach dem Warum stellte. Warum hatten sie sich kennengelernt, warum hatte er sich in sie verliebt, warum musste sie so früh sterben?
Mitten in der Nacht machte er Feuer. Er zog sich nackt aus, legte sich vor den Kamin und starrte in die Flammen. Als der Morgen anbrach, nickte er ein und wachte bereits zwei Stunden später wieder auf. Er trank eine Tasse Pfefferminztee und aß eine Banane, mehr brachte er nicht hinunter. Danach rief er Sarah Schumann an und berichtete ihr von dem Unglück.
Sie setzte sich in den nächsten Flieger, um ihm in dieser schweren Zeit zur Seite zu stehen, auch wenn es heimlich geschehen musste, weshalb sie wieder im Sheraton-Hotel abstieg. Er war froh, sie an seiner Seite zu wissen, obwohl auch Marias Eltern für ihn da waren und mit ihm litten, weinten und klagten und er ihnen nicht zeigen durfte, dass es noch eine andere Frau in seinem Leben gab. Es war ein unsichtbares, unzertrennliches Band, das ihn und Sarah Schumann seit fünfundzwanzig
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