Eisige Naehe
»Henning.«
»Klaus hier. Wo bist du?« »Warum?«
»Wir müssen uns sehen. Du, Lisa und ich. Heute noch.« »Was ist denn los?«
»Nicht am Telefon. In Murphy's Pub in einer Viertelstunde?«
»Einverstanden. Scheint ja ...« »In einer Viertelstunde. Nur wir drei, okay?« Jürgens drückte die Aus-Taste, ohne eine Erwiderung abzuwarten. Er zündete sich eine Zigarette an und beobachtete durch die Glasscheibe, wie Claudia Bartels noch einmal alles inspizierte, ihren Kittel auszog, unter dem eine kurvenreiche Figur zum Vorschein kam, ihre Tasche nahm, die Tür öffnete und sagte: »Elf?« »Elf, spätestens halb zwölf.«
Sie war die erste Frau seit einer halben Ewigkeit, die in ihm tiefere Gefühle ausgelöst hatte. Sie hatte ein bezauberndes, einnehmendes Wesen und war hübsch, wenn auch anders als viele seiner Liebschaften der vergangenen Jahre: Vor allem ihre Ausstrahlung, ihre liebenswerte Art und das Unaufdringliche, nicht Fordernde hatten es ihm angetan. Er musste sich eingestehen, dass er sich zum ersten Mal seit seiner Scheidung vor nunmehr zehn Jahren wieder verliebt hatte. Er war so verliebt, dass andere Frauen ihm gleichgültig geworden waren. Er drückte die Zigarette aus, zog die braune Lederjacke über und ging noch einmal zu ihr. »Danke für alles. Wir sehen uns nachher.« »Soll ich dir was sagen? So ernst und bedrückt habe ich dich noch nie erlebt. Ich warte auf dich. Soll ich uns ein paar belegte Brote machen?« »Das war schön. Bis später.«
Er umarmte sie, gab ihr einen langen Kuss und streichelte ihr durchs Haar. »Du bist etwas ganz Besonderes. Aber das weißt du bestimmt längst. Ciao.« »Ciao, und pass auf dich auf.«
Jürgens ging zu seinem Jaguar. Pünktlich eine Viertelstunde nach dem Telefonat betrat er den Pub, wo Henning und Santos bereits an einem Tisch in der hinteren Ecke saßen. Aus den Lautsprechern kamen irische Klänge, es duftete nach gegrilltem Fleisch, und es herrschte ein fast babylonisches Stimmengewirr. Der ideale Ort für ein geheimes Treffen.
»Hi«, sagte Jürgens und nahm Platz, doch da war nichts von seinem gewohnten jugendlichen Charme, den er sich trotz seiner achtundvierzig Jahre bewahrt hatte, auch kein schelmisches Aufblitzen in den Augen, sondern nur ein ernster Ausdruck in seinen Augen und um seinen Mund.
»Ihr habt ja noch gar nichts zu trinken. Ich geb einen Single Malt aus, und ihr solltet nicht nein sagen. Nicht heute.«
»Das klingt verdammt spannend.« Santos versuchte, in Jürgens' Gesicht zu lesen. »Auch wenn ich das Gesöff eigentlich nicht mag ...«
»Ach komm, beim letzten Mal hat es dir geschmeckt, das hast du selbst zugegeben«, entgegnete Jürgens, winkte die Bedienung herbei und sagte: »Drei doppelte Single Malt auf Eis von meiner Marke. Du weißt schon, Mel.« »Alles klar, Doc«, sagte die junge Dame mit einem Lächeln, das verriet, dass sie und Jürgens sich näher kannten. Sie war groß, schlank und hatte einen leichten irischen Akzent. Ihre rotblonden Haare fielen ihr über die Schultern, ihr natürlicher Hüftschwung wurde durch die langen Beine und den engsitzenden, kaum die Schenkel bedeckenden schwarzen Minirock noch betont. Henning und Santos kannten Jürgens inzwischen lange genug, um zu wissen, dass er nichts anbrennen ließ, auch wenn das Gerücht die Runde machte, er sei seit einiger Zeit mit seiner Kollegin Dr. Claudia Bartels zusammen. Aber sie gaben nicht viel auf Gerüchte.
»So, dann mal raus mit der Sprache, warum wolltest du uns treffen?«, fragte Henning.
»Trinken wir erst mal, ich habe einiges zu verdauen«, erwiderte Jürgens mit einer Stimme, die Henning und Santos aufhorchen ließ - überaus ernst.
»Das wird ja immer mysteriöser.« Santos zog fragend die linke Braue hoch.
»Es ist mysteriös, das werdet ihr gleich merken. Es ist das Merkwürdigste, das mir in meiner jetzt fast zwanzigjährigen Laufbahn untergekommen ist.« Die Getränke wurden gebracht, und Jürgens hob sein Glas: »Cheers, auf dass die Wahrheit siege.« »Cheers«, erwiderten Henning und Santos und kippten den Inhalt in einem Zug hinunter. Santos schüttelte sich und stellte das Glas auf den Tisch.
»Also, raus mit der Sprache«, sagte sie und beugte sich vor. »Ich bin ganz Ohr. Und was meinst du mit >auf dass die Wahrheit siege«
»Das werdet ihr gleich erfahren. Passt gut auf, ich hasse es nämlich, mich zu wiederholen. Außerdem habe ich heute noch was vor, habe schließlich schon meinen ganzen heiligen Sonntag geopfert.
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