Eisige Naehe
der Obduktion nach einem Gewaltverbrechen obligatorisch anwesende Staatsanwältin hatte sich unmittelbar danach verabschiedet. Jürgens hatte sich in sein Labor zurückgezogen und seine Assistentin gebeten, den Sektionssaal aufzuräumen. Als er nach anderthalb Stunden zurückkehrte, war er erstaunt, dass Claudia Bartels noch da war. Sie stand an den Tisch gelehnt, hatte die Haube abgenommen und das blonde Haar gelockert und sah Jürgens erwartungsvoll an.
»Was willst du hören?«, fragte Jürgens, als könnte er ihre Gedanken lesen, obwohl er seine Kollegin nicht einmal ansah.
Claudia schürzte die Lippen. »Sag du's mir.« »Einen Teufel werde ich tun.« »Und warum nicht? Vertraust du mir nicht?« Jürgens rieb sich die Hände mit einer Creme ein und stellte sich neben sie. »Weißt du, das mit dem Vertrauen ist so eine Sache. Nur weil wir ein paarmal im Bett waren ...« »Bitte? Ich habe mich wohl verhört. Ein paarmal im Bett, das ist alles? Hey, wenn ich für dich nur eine Bettgeschichte bin, dann ist es zwischen uns hiermit beendet. Aus und vorbei, denn ich steh nicht auf solche Spielchen, Herr Professor, und ...«
»Es tut mir leid, ich habe mich falsch ausgedrückt, manchmal bin ich ein echter Trampel.« Er fasste sie bei den Schultern und blickte ihr tief in die blauen Augen. »Ich habe mich in dich verliebt, als du vor einigen Monaten zum ersten Mal durch diese Tür getreten bist, schon da hast du mir den Verstand geraubt. Das ist die reine Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.«
»Das soll ich dir glauben?«, fragte sie, als wollte sie seine Worte noch einmal hören und genießen.
»Ja, genauso war es: Du kamst rein, hast dich vorgestellt, und ich habe gedacht, mein Gott, was für eine Frau. Es war um mich geschehen. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir alle Geheimnisse miteinander teilen. Und ich bin dir auch keine Rechenschaft schuldig, genauso wenig wie du mir. Du weißt, dass mein Ton hin und wieder zu flapsig oder aber zu barsch ist, das ist eben meine Art. Du wirst damit leben müssen, wenn du mit mir leben willst. Ich kann dir nur versichern, dass ich mit dir leben möchte.« »Kein Problem, darüber reden wir noch mal. Aber was für ein Geheimnis sollten wir teilen? Oder war das nur so dahingesagt? Komm, ich bin zwar erst seit einem halben Jahr hier, aber du solltest wissen, dass ich schweigen kann wie ein Grab. Was verschweigst du mir? Hat das was mit Tönnies' Anruf zu tun? Hast du dich deshalb ins Labor zurückgezogen und wolltest nicht mal von mir gestört werden?«
Jürgens rollte mit den Augen und nickte: »Unter anderem. Tönnies und ich haben eine erstaunliche, wenn nicht sogar sensationelle Entdeckung gemacht, aber gedulde dich noch ein wenig. Tönnies hat mich gebeten, seine Info absolut vertraulich zu behandeln. Das kann ich aber nur bedingt, ich muss jemanden einweihen. Deshalb muss ich jetzt sofort telefonieren und mich mit jemandem treffen, auch wenn's schon ziemlich spät ist. Nicht sauer sein, aber hier ist die Kacke gewaltig am Dampfen. Und bitte noch mal: kein Wort zu niemandem, und wenn ich niemand sage, dann meine ich niemand. Wenn unsere werte Frau Staatsanwältin wüsste, was hier los ist, die würde einen hysterischen Schreikrampf kriegen und sofort ihre Kündigung einreichen. Und Rüter würde alles daransetzen, mich und Tönnies loszuwerden.« »Warum darf ich mit niemandem reden? Du machst mir Angst, ehrlich«, sagte Claudia Bartels mit besorgter Miene und streichelte ihm über die Wange. »Nur ein kleiner Tipp, damit ich beruhigt bin.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, es geht nicht um Leben und Tod, aber doch um eine Riesenschweinerei, deren Ausmaß ich noch nicht abschätzen kann. Nachher reden wir, großes Ehrenwort. Jetzt ist es kurz nach halb zehn. Ich bin hoffentlich so gegen elf bei dir, sollte es früher oder später werden, rufe ich an. Auf jeden Fall erfährst du noch heute alles. Ist das ein Angebot?« »Meinetwegen. Ich bin schon ganz gespannt.« »Kein Wort, hörst du?«
Sie hob die rechte Hand. »Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist. Ohne Wenn und Aber. Genügt dir das?« »Wem sollte ich glauben, wenn nicht dir? Fahr nach Hause, ich muss jetzt wirklich dringend telefonieren.« »Sicher.«
Claudia Bartels sah ihm nach, bis er die Tür zu seinem Büro zugemacht hatte. Jürgens nahm sein Handy aus der Jackentasche und wählte eine Nummer. Er ließ es fünfmal klingeln und wollte bereits auflegen, als abgenommen wurde.
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