Eisige Schatten
Stimme schien aus größerer Ferne zu kommen, und ihre Augen hatten ein seltsames, verschwommenes Aussehen.
»Treten Sie oft mit dem Opfer in Verbindung?«
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. So düster es auch im Kopf eines Mörders ist, das, was in dem des Opfers vorgeht, ist … fast noch schlimmer. Das Entsetzen und die Verzweiflung, die Qualen …« Wieder schüttelte Cassie langsam den Kopf. »Das zieht mich hinein. Sie ziehen mich hinein. Sie sind so verzweifelt, so fieberhaft bemüht, einen Ausweg zu finden.«
Er hielt sich gerade noch zurück, die Hand nach ihr auszustrecken, sosehr er es auch wollte. »Es tut mir leid.«
Sie zitterte sichtbar und schaute ihn endlich an, nahm ihn wahr. Aber als ihr Blick ihn berührte, war er kühl statt warm, und ein so schwaches Gefühl, dass es fast geisterhaft wirkte.
»Ich kann das nicht mehr machen.« Sie sprach leise, angespannt. »Ich weiß, das es das Richtige ist, ich weiß, dass mir das zweite Gesicht eine Verantwortung gibt, und ich habe immer versucht … aber ich kann es nicht mehr. Ich dachte, ich könnte es. Ich dachte, es wäre genug Zeit vergangen … genug Frieden eingekehrt. Ich dachte, ich wäre stark genug. Aber das bin ich nicht. Ich kann das nicht noch mal durchmachen.«
»Cassie …«
»Ich kann nicht. Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich kann mir nicht helfen.«
»Sie sind zu mir gekommen«, erinnerte er sie leise.
»Ich weiß. Ich wollte helfen. Aber ich kann nicht. Es tut mir leid.«
»Was Sie heute gesehen haben. Haben Sie absichtlich Ausschau gehalten? Haben Sie versucht, ihn anzuzapfen – oder sie?«
»Nein.«
»Welche Wahl bleibt Ihnen dann?«
»Ich kann von hier fortgehen.«
»Sie sind aus L.A. fortgegangen. Und was hat es Ihnen genützt? Monster gibt es überall, Cassie.«
Sie schloss die Augen und legte ihren Kopf an die Stuhllehne.
Ben betrachtete sie, beunruhigt durch sein intensives Verlangen, sie zu berühren, zu halten. Emotional zerbrechliche Frauen hatten ihn nie angezogen, ganz im Gegenteil. Um die Wahrheit zu sagen, hatte jede Frau, die nicht vollkommen auf ihr eigenes Leben und ihren Beruf fixiert und an mehr als einer oberflächlichen Affäre interessiert war, sehr rasch festgestellt, dass er ausweichend und emotional distanziert war. Wie Jill bezeugen konnte.
Daher waren ihm Beschützerinstinkte und Tröstungsbedürfnisse äußerst fremd, wenn es um Frauen ging. Er zog es vor, die Nacht im Bett einer Frau zu verbringen, um dann lange vor Morgengrauen ohne viel Theater wieder zu verschwinden, und das allein sagte eine Menge über sein Vermeiden jeglichen Engagements bis auf das körperliche aus.
Frauen mit Bedürfnissen waren absolut nicht sein Stil. Nicht, dass Cassie irgendwie klammerte oder auch nur auf ihn zuging. Im Gegenteil, sie war vollkommen eigenständig, und alles an ihr, von ihrer Berührungsscheu über die Vermeidung des Blickkontakts bis hin zu ihrer Körpersprache, machte deutlich, dass sie buchstäblich unberührbar war.
Er glaubte, dass sie es stärker nötig hatte, gehalten zu werden, als sonst ein Mensch. Aber er berührte sie nicht. Weil sie die Berührung nicht begrüßt hätte, und weil er davor zurückscheute, sie anzubieten.
Schließlich sagte Cassie mit müder Stimme: »Vor ein paar Jahren gab mir ein Polizistenfreund ein Zitat von Nietzsche. Er sagte, ich solle es dort aufhängen, wo ich es täglich sehen könnte, um es nie zu vergessen. ›Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.‹« Sie hob den Kopf und blickte ihn mit erschöpften Augen an. »Ich weiß nicht, wie oft ich das noch tun und dabei überleben kann, Ben. Jedes Mal, wenn ich in den Abgrund geschaut habe, blieb ein Teil von mir dort zurück.«
»Sie könnten niemals ein Ungeheuer werden.«
»Ich könnte mich in einem verlieren. Wo wäre dann noch der Unterschied?«
Er beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien, kam ihr näher, ohne sie tatsächlich zu berühren. »Cassie, Sie können als Einzige entscheiden, welche Risiken es wert sind, sich darauf einzulassen. Das Risiko, dass dieser Wahnsinnige herausbekommt, wer Sie sind, bevor wir ihn finden. Das Risiko, zu tief in seinen Geist einzudringen. Das Risiko, etwas von sich in der Schwärze seiner Seele zu verlieren. Nur Sie wissen wirklich, was es Sie kosten könnte. Und nur Sie können entscheiden, ob der Preis zu hoch ist.«
Sie betrachtete ihn
Weitere Kostenlose Bücher