Eisige Schatten
ihre Erschöpfung – sowohl die geistige als auch die körperliche – ebenfalls bewusst, und er bezweifelte, dass ihr nach Gesellschaft zumute war.
Er irrte sich. »Ich könnte einen Kaffee gebrauchen. Wie ist es mit Ihnen?«, fragte sie, als sie die Haustür aufschloss.
»Gern, vielen Dank.«
Cassie entsicherte die Alarmanlage mit der vorsichtigen Berührung eines Menschen, dem die Schritte noch unvertraut sind, und ging dann in ihre helle und fröhliche Küche voraus.
Ben war zu unruhig, sich hinzusetzen, während sie den Kaffee aufgoss, merkte aber gar nicht, dass er im Raum auf und ab lief, bis sie ihn wieder ansprach.
»Es war nicht Ihre Schuld.«
Er überprüfte die Hintertür, sah nach, ob sie abgeschlossen und der neue Riegel vorgeschoben war. »Was war nicht meine Schuld?«
»Jills Tod.«
Er drehte sich um und fand sie an der Spüle lehnend, die Arme verschränkt, den Blick ernst auf ihn gerichtet.
Er wollte leugnen, dass es ihm zusetzte, doch es gelang ihm nicht.
»Ich hätte sie warnen sollen.«
»Das hätte keine Rolle gespielt. Wie der Sheriff sagte, ihr wäre nie in den Sinn gekommen, besonders vorsichtig zu sein, wenn sie an einem Sonntagnachmittag in den Laden ging. Niemand kann die ganze Zeit auf der Hut sein.«
»Sie anscheinend schon.« Warum nervte ihn ihre Zurückhaltung, ihre Reserviertheit so sehr?
»Das ist was anderes.«
»Ach ja?«
Ihre Schultern hoben sich zu einem kleinen Zucken, und ihr Blick wandte sich ab. »Ja. Aber wir reden nicht von mir. Sie hätten nichts tun können, um Jill zu retten. Finden Sie sich damit ab.«
»Und mache weiter?«
»Uns bleibt keine andere Wahl. Der Tod entreißt uns Menschen, unser ganzes Leben lang. Wir müssen weitermachen. Oder selbst sterben.«
»Ich weiß, ich weiß.« Diesmal war es an Ben, mit den Schultern zu zucken. »Aber es hilft nicht, das zu wissen. Sie war zweiunddreißig Jahre alt, Cassie. Nur zweiunddreißig Jahre. Sie hat ihr ganzes Leben hier verbracht, und sie glaubte, sie sei sicher. Sie hätte sicher sein sollen.«
»Es ist nicht Ihre Schuld, dass sie es nicht war.«
»Wessen Schuld ist es dann?«
»Seine. Die Schuld des Monsters da draußen. Und wenn ihm nicht Einhalt geboten wird, dann wird er für noch mehr Tode verantwortlich sein.«
»Er wird auch für die Zerstörung dieser Stadt verantwortlich sein. Sie hat bereits begonnen. Matt musste mehr Leute einsetzen, nur um Anrufe zu beantworten, seit sich der Mord an Ivy herumgesprochen hat. Wenn in der Morgenzeitung über Ivys Tod berichtet wird … hier wird es bald zu sehr großen Spannungen kommen. Drei Morde in vier Tagen. Drei Frauen brutal ermordet, eine in ihrer eigenen Küche.«
Cassie wandte sich ab, um den Kaffee einzuschenken, und sagte ganz leise: »Die Einwohner werden nach jemandem suchen, dem sie die Schuld für diese Tode geben können.«
»Ich weiß.«
»Gibt es da mögliche Zielscheiben?« Sie stellte die Tasse neben ihn auf die Arbeitsplatte und zog sich dann mit ihrer ein paar Schritte zurück.
»Sie meinen welche, die sich leicht herauspicken lassen? Obdachlose, Geistesgestörte oder geistig Behinderte, Vorbestrafte?«
»Ja.«
»Nicht viele.« Ben griff nach seiner Tasse, trank in kleinen Schlucken von dem heißen Kaffee und lehnte sich dabei mit der Hüfte an die Platte, wie Cassie es tat. »Wir haben keine Obdachlosen im wirklichen Sinne. Die Kirchen hier in der Gegend sind recht gut darin, Bedürftigen zu helfen. Was die Gestörten oder Behinderten angeht, gibt es ein paar dieser Männer mittleren Alters, die man in den meisten Kleinstädten antrifft, nicht ›langsam‹ genug, um uneinstellbar zu sein, aber nicht helle genug, um zu mehr angelernt zu werden, als einen Besen zu schieben. Und es gibt eine Frau, die seit Langem in dieser Stadt bekannt ist, seit mindestens zehn Jahren. Von Zeit zu Zeit entkommt sie den wachsamen Augen ihres Sohnes, wandert in der Stadt herum und sammelt Unsichtbares vom Gehweg auf.« Ben hielt inne und schüttelte den Kopf. »Niemand weiß, was sie da ihrer Meinung nach aufsammelt, aber wenn man sie anhält, weint sie, als würde ihr das Herz brechen.«
Cassie stellte ihren Kaffee ab. »Die Ruine eines Lebens.«
»Ihr Sohn behauptet, das hätte eines Tages plötzlich angefangen.«
»Ich frag mich, warum«, murmelte Cassie. »Für so was muss es zumindest einen Auslöser gegeben haben.«
»Wenn da tatsächlich etwas passiert ist, dann weiß ich nicht, was es war. Die Familie lebt sehr zurückgezogen,
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