Eisige Schatten
von da an sah ich sie nie wieder und hörte auch nichts mehr von ihr. Bis mir mitgeteilt wurde, dass sie gestorben war und ich ihren Besitz hier geerbt hatte. Daher weiß ich nur das wenige, das ich als Kind mitbekommen habe.«
»Dann wissen Sie also nicht, ob sie immer recht hatte?«
Abbys Stimme war genauso ruhig wie Cassies, aber an ihrer angespannten Haltung und dem verkrampften Griff, mit dem sie die Kaffeetasse hielt, war etwas, das auf starke Gefühle deutete.
Vorsichtig geworden, antwortete Cassie: »Kein Paragnost hat immer hundertprozentig recht. Die Dinge, die wir sehen, sind oft subjektive, manchmal symbolische Bilder, die wir durch unser eigenes Wissen und unsere Erfahrung filtern. Wenn überhaupt, sind wir Übersetzer, versuchen eine Sprache zu entziffern, die wir nur teilweise verstehen.«
Abby lächelte ein wenig gequält. »Die Antwort lautet also: Nein.«
»Nein, ich weiß nicht, ob Tante Alex immer recht hatte – aber ich bezweifle sehr, dass das zutrifft.«
»Sie sagte … sie erzählte mir, es gebe einen Unterschied zwischen einer Vorhersage und einer Prophezeiung.«
»Präkognition ist eigentlich nicht mein Gebiet, aber meine Mutter behauptete immer, da beständen Unterschiede. Eine Vorhersage wäre eine fließende Sache, die Vision eines Ereignisses, das manchmal von Menschen und ihren Entscheidungen beeinflusst werden könnte, daher ließe sich das Ergebnis nicht deutlich erkennen. Eine Prophezeiung, sagte sie, sei etwas viel Konkreteres. Es sei eine echte Vision der Zukunft und unmöglich zu verändern, außer es schritte jemand mit gewissen Kenntnissen dagegen ein.«
»Gewissen Kenntnissen?«
Cassie nickte. »Angenommen, eine Paragnostin hätte eine prophetische Vision einer Zeitungsschlagzeile, die verkündet, hundert Menschen seien bei einem Hotelbrand ums Leben gekommen. Sie weiß, dass niemand ihr glauben wird, wenn sie versucht, die Leute zu warnen, daher unternimmt sie das Einzige, was ihr übrig bleibt. Sie geht zu dem Hotel und löst den Feueralarm aus, bevor das eigentliche Feuer entdeckt wird. Die Menschen kommen davon. Aber das Hotel brennt trotzdem ab. Die Schlagzeile, die sie gesehen hat, wird nie erscheinen. Doch das Ereignis, das dazu geführt hätte, wird geschehen.«
Abby hatte ihr so intensiv zugehört, dass sie sich weit über den Tisch vorbeugte. »Dann kann eine Prophezeiung also geändert werden, aber nur teilweise.«
»So wurde es mir gesagt. Für eine Paragnostin besteht das Problem darin, zu wissen, ob ihre Einmischung die Prophezeiung abändern wird – oder das Geschehen so auslöst, wie sie es gesehen hat.«
»Woher kann sie das wissen?«
»Einige sagen, sie kann es nicht. Ich tendiere auch dazu. Zu interpretieren, was man sieht, ist schwierig genug. Einzuschätzen, ob die eigene Warnung oder Einmischung der Katalysator ist, der genau zu dem Ergebnis führt, das man vermeiden will … ich kann mir nicht vorstellen, wie es möglich sein soll, etwas anderes zu tun, als zu raten. Und wenn es um einen hohen Einsatz geht, könnte einen die falsche Einschätzung teuer zu stehen kommen.«
»Ja.« Abby senkte den Blick auf ihren Kaffee. »Ja, ich verstehe.«
Cassie zögerte, sagte dann: »Falls es Ihnen nichts ausmacht, dürfte ich erfahren, was Tante Alex Ihnen mitgeteilt hat? War es eine Vorhersage über Ihr Schicksal? Oder eine Prophezeiung?«
Abby atmete tief durch und begegnete Cassies Blick mit einem zittrigen Lächeln. »Eine Prophezeiung. Sie sagte – sie teilte mir mit, ich würde von einem Wahnsinnigen ermordet werden.«
8
Nachdem Ben Cassie bei der Werkstatt abgesetzt hatte, traf er sich in seinem Büro kurz mit einem Pflichtverteidiger wegen eines anstehenden Falles und nahm dann mehrere Anrufe von Bürgern entgegen, die wegen der Morde besorgt waren.
Oder genauer gesagt, wissen wollten, was er dagegen zu unternehmen gedächte.
Sein Beruf erforderte Takt und Geduld, und er verfügte über beides. Doch als er nach dem dritten Anruf aufgelegt hatte, stellte er beunruhigt fest, dass die Stimmung der Stadt allmählich von Panik in Wut umschlug.
Und es gab zu viele verdammte Waffen in zu vielen wütenden Händen.
Ben begann, eine Liste aufzustellen. Bald würde Eric Stephens ihn anrufen, um zu erfahren, welche offiziellen Ratschläge er in seiner Zeitung drucken sollte. Ständig fragten schließlich Bürger, wie sie sich schützen sollten. Matt würde natürlich als Erster gefragt werden, und er würde dieselben praktischen Vorschläge
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