Eisige Schatten
wieder. Denn mit geschlossenen Augen sah sie ständig die Überreste des armen Mädchens über die ganze Scheune verstreut. Selbst bei ihrer Erfahrung mit entsetzlichen Tatorten und ihrer schwer gewonnenen Fähigkeit, sich davon etwas zu distanzieren, war dieser Anblick so brutal und entmenschlicht, dass er sich vor ihrem inneren Auge auf eine Weise eingebrannt hatte, die es ihr unmöglich machte, ihm je wieder vollkommen zu entrinnen. Aber wenn ihre Augen offen waren, konnte sie bewusst auf etwas anderes blicken.
Egal worauf. Die Karte hinter Matts Schreibtisch war dafür gut geeignet. Salem County. Eine der größeren Countys des Bundesstaates, vage wie ein Dreieck geformt …
Cassie schüttelte gereizt den Kopf. Sie wurde diese verdammte Musik nicht los, eine Melodie, die sie nicht identifizieren konnte und die immer wieder ablief, verstummte, nur um erneut einzusetzen. Das war einer der irritierenden Tricks des Gehirns, der immer dann auftauchte, wenn man zu viel zu bedenken hatte.
Sharon kehrte mit dem Kaffee zurück und dem Angebot, einen späten Lunch holen zu lassen, falls es erwünscht war. Cassie dankte ihr, und die Polizistin kehrte an ihren Schreibtisch zurück, kurz bevor Ben in Matts Büro trat.
Cassie deutete auf die Tasse, die Sharon für ihn gebracht hatte, und sagte: »Für eine Weile sah das da draußen ganz schön hässlich aus.«
Ben setzte sich hinter Matts Schreibtisch. »Es wird noch viel schlimmer werden, sollten wir irgendwann einen Verdächtigen in Verwahrung nehmen. Näher möchte ich einem Lynchmob wirklich nicht kommen.«
»Sie haben auf dich gehört. Sie sind gegangen.«
»Diesmal«, sagte Ben als unbewusstes Echo von Deputy Watkins. »Aber falls wir diesen Schweinehund nicht fassen, und zwar bald …«
»Er blockt mich immer noch ab.«
»Verdammt, Cassie, hör auf, zu versuchen, ohne Rettungsleine Kontakt mit ihm aufzunehmen.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass es nicht gefährlich ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Und ich muss es weiter versuchen. Wozu bin ich sonst hier, Ben? Bisher konnte ich Matt nur sagen, wo er nach den Leichen suchen soll. Eine tolle Hilfe.«
»Du hast alles getan, was du konntest.«
»Hab ich das?« Cassie starrte in ihren Kaffee. »Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Du wirkst sehr angespannt. Was beunruhigt dich?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Nur so ein Gefühl.«
Er wartete, beobachtete sie.
Langsam sagte Cassie: »Er muss sich diesmal in eine Raserei hineingesteigert haben, weißt du. Um das fertigzubringen, was er dem armen Mädchen angetan hat.«
Ben hatte sich den Mordschauplatz nicht angesehen, aber er hatte Matts angewidertes und Bishops versteinertes Gesicht gesehen, genau wie Cassies gequälten Blick. Er konnte sich das Gemetzel nur vorstellen, das sie in der Scheune erwartet hatte.
»Denk nicht mehr daran«, sagte er.
»Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich bekomme es nicht aus dem Kopf. Irgendwann vielleicht, aber jetzt noch nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn ich doch nur den Sinn dahinter ergründen könnte …«
»Wie kann so etwas einen Sinn ergeben?«
»Selbst Wahnsinnige besitzen ihre eigene, verrückte Logik.« Sie blickte ihn stirnrunzelnd an. »Vielleicht ist es das, was mich beunruhigt.«
»Was?«
»Na ja … als würde er zwischen Heiß und Kalt schwanken. Ein Opfer wird weit von dort, wo es getötet wurde, gefunden, der Schauplatz ordentlich, die Leiche praktisch unberührt bis auf die Wunde, die zum Tod geführt hat, keine Mordwaffe irgendwo zu sehen. Das nächste Opfer wird in dem Raum gefunden, wo es getötet wurde, überall Blut, die Waffe ein Messer, das er dort gefunden und zurückgelassen hatte. Dann nimmt er ein weiteres Messer mit und benutzt es bei dem dritten Opfer, das dort getötet wurde, wo man es fand, aber wieder ist der Tatort ordentlich und unberührt. Und jetzt das. Er hat die Tatwaffe selber gefertigt und sie hinterher wieder mitgenommen – aber der Mord reichte ihm nicht. Sie zu vergewaltigen, reichte nicht. Er musste sie in Stücke hacken …«
Ben atmete tief durch. »Man braucht mehr als ein Küchenmesser, um eine Leiche zu zerhacken.«
»Er hat eine Axt benutzt«, sagte Cassie. »Und sie am Tatort gelassen. Die Garrotte hat er mitgenommen, die Axt aber in der Scheune gelassen.«
Ben fragte nicht, woher sie das wusste. Stattdessen sagte er mit der gleichen emotionslosen Stimme wie sie: »Anscheinend ruhig und beherrscht, wenn er ein Opfer tötet, dann in völliger
Weitere Kostenlose Bücher