Eisige Schatten
rau.
Sie nahm es ohne sichtbare Reaktion hin. »Na gut. Aber es ist eine Frage der Prioritäten, nicht wahr? Nichts kann … kann sich klären, bis dieser Mörder dingfest gemacht wurde. Deine gesamte Energie, und auch meine, muss sich darauf richten.«
»Und danach? Wenn der Mörder gefasst wurde? Was dann, Cassie?«
»Ich weiß es nicht.« In der Beklommenheit ihres Blicks lag etwas schmerzhaft Ehrliches. »Ich weiß nicht, wie du dich fühlen wirst. Wie ich mich fühlen werde. Ich weiß nicht, ob einer von uns die Energie haben wird, auch nur einen Deut darum zu geben.«
»Das wird nicht einfach aufhören, falls es das ist, was du glaubst. Ist es das, was du glaubst? Dass ich dich will, weil wir beide in diese Ermittlungen verwickelt sind, wegen der dadurch entstandenen Nähe?«
»Es sind schon seltsamere Dinge passiert«, murmelte sie.
Ben schüttelte den Kopf. »Du irrst dich. Es ist durchaus nicht meine Angewohnheit, mich auf die nächstbeste Frau zu stürzen. Cassie, warum suchst du nach Ausreden?«
»Ausreden?«
»Für mich klingt das so. Einen Grund nach dem anderen, um mich auf Armeslänge zu halten, bis – was? Bis ich die Geduld verliere und aufgebe?«
Durch das Klingeln des Telefons blieb Cassie die Antwort erspart.
»Verdammt«, murmelte Ben, als Cassie ans Telefon ging.
»Ich glaube, der Bürgermeister möchte dich sprechen«, sagte Cassie, und sie hörten beide die Erleichterung in ihrer Stimme.
Hannah Payne summte leise vor sich hin, während sie das Schnittmuster auf den am Wohnzimmerboden ausgebreiteten Stoff steckte. Sie hätte das natürlich in ihrem Nähzimmer machen sollen, das Joe im Gästezimmer für sie eingerichtet hatte. Aber er schlief im Schlafzimmer daneben, weil er wieder Nachtschicht gehabt hatte, und sie wollte ihn nicht stören.
Von Zeit zu Zeit überlief sie ein Frösteln bei dem Gedanken an das vermisste Mädchen, aber Joe hatte ihr davon abgeraten, den ganzen Tag Radio zu hören, um zu erfahren, was mit dem armen Ding passiert war. Das hätte sie nur aufgeregt.
Sie hätte ja doch nicht helfen können.
Geborgen in ihrer sicheren kleinen Welt, arbeitete Hannah zufrieden, bis sie kurz nach zwei vom Klingeln des Telefons aufgeschreckt wurde. Sofort griff sie nach dem Hörer, bevor es ein zweites Mal klingeln und Joe wecken konnte.
»Hallo?«
Stille.
»Hallo? Ist da jemand?«
Leise Musik erklang.
Hannah bekam Angst, obwohl sie nicht hätte sagen können, warum. Es war eine Spieldose, das erkannte sie; der Klang war unverwechselbar. Nur eine Spieldose, und jemand erlaubte sich offensichtlich einen Scherz mit ihr.
»Hallo? Wer ist da?« Sie erkannte die Melodie nicht …
»Schlampe. «
Mit einem Keuchen hängte Hannah ein. Sie setzte sich auf den Boden, und ihr wurde durch und durch kalt. Nur ein Scherz, natürlich. Ein übler Scherz, ein gemeiner Scherz, aber mehr nicht. Mehr nicht.
Joe wäre nicht begeistert, wenn sie ihn bitten würde, noch eine Nachtschicht ausfallen zu lassen.
Um drei Uhr nachmittags parkte Abby ihr Auto am Bürgersteig vor dem Sheriffdepartment, ließ Bryce im Wagen und stieg die Stufen zum Eingang hoch.
Cassie saß auf der vierten.
»Hi«, sagte Abby.
Cassie grüßte zurück und fügte hinzu: »Matt ist noch nicht wieder da.«
»Er ist immer noch da draußen – bei dem Ramsay-Mädchen?«
»Am Tatort, ja. Ihre Leiche wurde vor einer Stunde in die Stadt zurückgebracht, aber die Spurensicherung sucht dort noch nach Beweisen. Oder nach dem, was sie hoffen, als Beweismittel verwenden zu können.«
»Ist der FBI-Agent noch da?«
Cassie wunderte sich nicht, dass Abby davon wusste. »Der ist bei Matt und den anderen.«
»Es heißt, er gehöre zu einem dieser Sonderkommandos für Serienmörder, die das FBI durchs Land schickt.«
»Nein, das stimmt nicht. Allerdings glaube ich, dass er eine Zeit lang mit den Verhaltenspsychologen in Quantico gearbeitet hat.«
Abby beäugte sie. »Warum ist er dann hier? Niemand glaubt, dass Matt das FBI hinzugezogen hat, und ich am wenigsten.«
»Hat er auch nicht.« Cassie lächelte, erklärte kurz, was sie mit dem Agenten verband, und endete mit: »Er wird dableiben, zuschauen und zuhören und unverlangte Ratschläge geben. Wird Matt wahrscheinlich auf die Nerven gehen – wobei der Mann tatsächlich ziemlich gut darin ist, sich in Mörder hineinzuversetzen. Aber ich schätze, man könnte sagen, dass er hauptsächlich meinetwegen hier ist.«
»Verstehe. Und was sagt Ben dazu?«
»Bisher
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