Eisige Umarmung (German Edition)
erfuhr sie auch jetzt erst, wer Kalebs Ausbilder gewesen war: Santano Enrique.
Sie speicherte diese unerwartete Entdeckung ab und vertiefte sich wieder in die Texte. Bald fielen ihr eigenartige Lücken in den Berichten auf. Bis zum Alter von sieben Jahren und vier Monaten waren Kalebs Fortschritte täglich aufgezeichnet worden, aber die nächste Eintragung gab es erst drei Monate später. Was hatte er in der Zwischenzeit getan? Das Muster wiederholte sich noch ein paarmal. Solche Lücken waren äußerst ungewöhnlich. Die Eintragungen während der Ausbildung mussten immer auf dem neuesten Stand fortgeführt werden.
Sie fing noch einmal von vorne an und bemerkte noch ein zweites Muster. Die Lücken traten immer eine Woche nach einer Einzelsitzung mit Santano Enrique auf. Auch bei jedem anderen Trainer hätte das Anlass zur Sorge gegeben, im Fall Enriques jedoch war es höchst alarmierend.
Denn Santano Enrique war kein normaler Kardinalmedialer gewesen, sondern ein außergewöhnlich gut funktionierender Psychopath, hatte der Minderheit angehört, deren abartige Strukturen durch Silentium freigeschaltet worden waren. Enrique war durch alle Kontrollmaßnahmen geschlüpft, die solche Abnormitäten hätten aufdecken können, und sogar Ratsherr geworden. Nun sah es so aus, als wäre Kaleb nicht nur sein Schüler, sondern sogar sein Protegé gewesen.
Das warf ein ganz neues Licht auf die unkoordinierten Berichte des Netkopfes in der letzten Zeit, vor allem auf jene über den unbekannten Serienmörder. So etwas war zuletzt passiert, als Enrique die Kontrolle über den Netkopf gehabt hatte.
Nikita wandte sich wieder dem Bericht zu. Auch Kalebs Kräfte hatten sich auf ungewöhnliche Weise entwickelt. Die meisten Kardinalen waren in ihrer Entwicklung vorhersagbar, ihre Zügellosigkeit und Unzuverlässigkeit wich mit der Zeit vollkommener Beherrschung. Obwohl es selbstverständlich bei ihrer Tochter Sascha völlig anders gewesen war. Für Nikita wäre es sehr viel leichter gewesen, den Fötus abzutreiben, sobald sich bei den Routineuntersuchungen die Wahrscheinlichkeit einer E-Kategorie gezeigt hatte. In den Anfangsjahren von Silentium hatte der Rat tatsächlich eine solche Anweisung gegeben. In einem Volk ohne Empfindungen hielt man die Fähigkeit der E-Medialen, seelische Wunden zu heilen, für überflüssig.
Ein Jahrzehnt später hatte man das Korrelationsprinzip entdeckt – es gab eine direkte, wahrscheinlich sogar wissenschaftlich nachweisbare Beziehung zwischen der Anzahl der abnehmenden E-Medialen und der geistigen Stabilität der Bevölkerung. Einfacher ausgedrückt: Je weniger E-Mediale, desto mehr Wahnsinnige und Psychopathen gab es. Deshalb wurden E-Mediale wieder ausgetragen und dazu gezwungen, ihre Fähigkeiten unter Konditionierungen zu verstecken, die nie in amtlichen Dokumenten auftauchten. Daher hatte sich Sascha so ungewöhnlich entwickelt.
Doch nichts dergleichen konnte Kalebs geistige Entwicklung hervorgerufen haben. Schon mit zehn Jahren war er so zielgerichtet wie ein Erwachsener. Selbst in der sonst problematischen Phase der Pubertät hatte seine Konzentrationsfähigkeit nicht nachgelassen. Allerdings war eine plötzliche starke Verminderung im Alter von sechzehn Jahren vermerkt worden. Man hätte sich ernsthafte Sorgen gemacht, wenn er sich nicht innerhalb eines Monats wieder stabilisiert hätte. Die M-Medialen fanden selbst bei gründlichen Untersuchungen keinen Hinweis auf ein geistiges oder körperliches Trauma, das der Auslöser hätte sein können. So war diese Episode schließlich als verspätete pubertäre Reaktion eingestuft worden.
Nikita hatte allen Grund, an dieser Diagnose zu zweifeln. Sie öffnete eine andere Akte, die der Rat nach der Entdeckung von Enriques psychopathischen Taten angelegt hatte. Sie hatten eine Liste aller ungelösten Morde zusammengestellt, die auf das Konto des ehemaligen Ratsherrn gehen konnten, wenn es weitere Beweise gegeben hätte. Man musste nur eins und eins zusammenzählen.
Nikita ging die Liste durch und fand sofort, wonach sie gesucht hatte. Sieben Tage vor dem Eintrag zu Kalebs Leistungsabfall war eine Gestaltwandlerin – ein Schwan – verschwunden. Und Kaleb war etwa vierundzwanzig Stunden vor diesem Leistungstief von einer seiner unerklärten Abwesenheiten zurückgekehrt, die er wahrscheinlich mit Enrique verbracht hatte.
Nicht nur ein Protegé. Ein Komplize.
Das könnte sich zu einem größeren Problem ausweiten, falls Kaleb jemals die Kontrolle
Weitere Kostenlose Bücher