Eisige Umarmung (German Edition)
diesem Bereich nicht wahrnahm, auch wenn er das dringende Bedürfnis verspürte, so schnell wie möglich zu ihr zurückzukehren. „Du bist eine Kardinalmediale, also finde es selbst heraus.“
Trotziges Schweigen. Er verstand einfach nicht, was in seiner Nichte vorging – ihr Verhalten war noch schwerer vorherzusagen als das der anderen Kinder. Dabei war sie im Medialnet eiskalt gewesen. Man hatte ihr sogar schon Stellungen angeboten, eine sogar von Ming LeBon persönlich.
„Du musst lernen, dich selbst zu schützen“, sagte er, als sie weiter schwieg. „Ohne eine solide Basis wirst du zusammenbrechen, sobald jemand schlau genug ist, deine Mängel zu erkennen und auszunutzen.“
Sie schluckte und sah ihn an. „Ich bin siebzehn. Warum behandelt man mich nicht meinem Alter entsprechend? Selbst den jungen Wölfen geht es besser!“
„Du weißt ganz genau, dass man dich nicht diskriminiert. Tatsache ist, dass du Befehlen nicht folgst und jemanden töten wirst, wenn du dich verteidigst.“
„Du fügst dich auch nicht immer den Befehlen anderer.“
Judd wartete, was noch kam.
„Ich bin ja nicht blöd“, murrte sie. „Ich weiß, dass du ein Pfeilgardist warst, und die sind viel zu wertvoll, um rehabilitiert zu werden.“
Ihr Ton hielt ihn davon ab, zu widersprechen, denn er erinnerte ihn zu sehr an eine andere Frau mit äußerst starkem Willen. „Und?“ Er musste herausfinden, was sie wusste, bevor er ihr antwortete.
„Es muss eine andere Lösung für dich gegeben haben.“ Sie richtete sich auf. „Eine neue Identität oder so etwas Ähnliches.“
„Das Urteil betraf alle Mitglieder der Laurenfamilie“, sagte er, denn zumindest in diesem Punkt musste er sie wie eine Erwachsene behandeln. Alles andere wäre eine Beleidigung für ihre Intelligenz und ihren Geist gewesen.
„Warum?“, unterbrach sie ihn. „Der Selbstmord meiner Mutter und ein paar instabile Familienmitglieder können doch nicht der Grund gewesen sein, alle zu rehabilitieren.“
Sie war wirklich sehr klug. „Wir waren eine mächtige Gruppe, Sienna. Vor dem Tod von Kristine hatten wir drei Kardinalmediale.“ Und dazu kamen noch die beachtlichen Fähigkeiten von Walker, Marlee und ihm selbst. „Irgendein Mächtiger muss sich bedroht gefühlt haben und wollte uns auslöschen.“
„Ich hatte angenommen …“ Sie sah auf. „Und du?“
„Mein Name wurde aus den Familienannalen gelöscht, als ich zehn war.“ Da hatte er zum ersten Mal getötet. „Nur meine Spezialeinheit hat Zugang zu meiner Geburtsurkunde und den Gesundheitsberichten.“ Man würde sofort ein rotes Fähnchen an seine Akte heften, falls seine DNA bekannt werden würde. „Für alle anderen im Medialnet existiere ich gar nicht.“ Kein Pfeilgardist war der Öffentlichkeit bekannt. „Eine neue Identität war überhaupt nicht notwendig. Ich galt gar nicht als Mitglied der Familie.“
Sienna machte große Augen. „Aber warum bist du dann abtrünnig geworden?“, flüsterte sie. „Du bist sehenden Auges in den möglichen Tod gegangen.“
Er sah auf die blauen Flecken, in das verwirrte Gesicht und musste ihr einfach die Wahrheit sagen. Siennas Fähigkeiten mochten zwar anders sein als seine, aber sie hatten denselben dunklen Ursprung. „Wenn man einen bestimmten Punkt einmal überschritten hat, kann man nie wieder zurück.“ Er streckte die Hand nach ihrem Haar aus. Die dunkelroten Strähnen fühlten sich weich an. Zum ersten Mal berührte er sie außerhalb ihrer Übungszeiten.
„Diesen Punkt hätte ich überschritten, wenn ich euch hätte sterben lassen und selbst am Leben geblieben wäre.“ Denn sie standen unter seinem Schutz. Obwohl er aus allen amtlichen Büchern gestrichen worden war, hatte er für Walker und Sienna, für Marlee und Toby … und für Kristine immer existiert. Kristine war seine Schwester gewesen, und dieses erstaunliche Mädchen war ihre Tochter. Aber im Gegensatz zu ihrer hartnäckigen, trotzigen Tochter war Kristine unter der Wirkung von Silentium zerbrochen.
Auf einmal schien Siennas Gesicht so zart und hilflos, dass ihm fast das Herz brach. Doch dann gab sie sich einen Ruck, und ihr Gesichtausdruck änderte sich wieder. Judd wusste, was das bedeutete, denn er hatte von Brenna gelernt. Er dachte nicht an die möglichen Konsequenzen und zog sie in seine Arme. Lange Zeit war sie wie erstarrt, dann fing sie an zu weinen. Seine Abwehrschilde waren kaum noch vorhanden, er fühlte Wärme, Zuneigung … die beschützende Liebe eines
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