Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
Blick auf Hampstead Heath.
»Ich gehe erst mal unter die Dusche«, verkündete Berryman und verschwand durch eine Tür zu seiner Linken.
»Soll ich uns Kaffee oder Tee machen?«, fragte Frieda.
»Rühren Sie ja nichts an!«, rief er aus dem Nebenraum.
Frieda, die bereits Wasser prasseln hörte, wanderte langsam im Zimmer umher. Dabei warf sie einen Blick auf die Noten am Piano: eine Nocturne von Chopin. Dann starrte sie eine Weile aus dem Fenster. Es war so kalt, dass fast nur Leute mit Hunden unterwegs waren, die sich entsprechend vermummt hatten. Auf dem Spielplatz trieben sich ein paar Kinder herum, alle so dick verpackt, dass sie aussahen wie kleine Bären. Berryman tauchte wieder auf, bekleidet mit einem Karohemd und einer dunkelbraunen Hose, aber noch barfuß. In leicht gebeugter Haltung, als wollte er sich auf diese Weise für seine Größe entschuldigen, ging er in die Küche, schaltete den Wasserkocher an und häufte Kaffeepulver in eine Kanne.
»Sie spielen also Chopin«, bemerkte Frieda. »Schön.«
»Das ist gar nicht schön«, widersprach Berryman, »sondern eine Art neurologisches Experiment. Es gibt eine Theorie, der zufolge man nach zehntausend Übungsstunden in einer bestimmten Disziplin eine gewisse Fertigkeit darin erreicht. Regelmäßiges Üben stimuliert das Myelin, welches die Nervensignale verbessert.«
»Und wie läuft es?«
»Ich habe etwa siebentausend Stunden hinter mich gebracht, aber der Erfolg lässt auf sich warten«, berichtete Berryman. »Das Problem ist, dass ich mir nicht so recht vorstellen kann, wie das Myelin zwischen gutem Klavierspiel und beschissenem Klavierspiel unterscheiden soll.«
»Und wenn Sie nicht gerade Chopin spielen, behandeln Sie Menschen mit ungewöhnlichen psychischen Störungen?«
»Nur, wenn es gar nicht anders geht.«
»Ich dachte, Sie sind Arzt.«
»Das bin ich rein theoretisch auch«, antwortete Berryman, »aber im Grunde war das ein Fehler. Zwar habe ich damals angefangen, Medizin zu studieren, wollte mit echten Menschen aber nichts zu tun haben. Mich interessierte nur, wie das Gehirn funktioniert. In diesem Zusammenhang ist das Vorkommen von psychischen Störungen insofern nützlich, als es zur Klärung von Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich unserer Wahrnehmung der Welt beiträgt. Beispielsweise wusste die Menschheit lange nicht, dass ein Teil unseres Gehirns für Gesichtserkennung zuständig ist, bis irgendwann Patienten mit Kopfschmerzen auftauchten, die plötzlich ihre eigenen Kinder nicht mehr erkannten. Wobei ich nicht besonders scharf darauf bin, diese Leute zu behandeln. Damit will ich keineswegs sagen, dass sie nicht behandelt werden sollten. Ich möchte nur nicht derjenige sein, der es tun muss.« Während er Frieda einen Becher Kaffee reichte, lächelte er plötzlich. »Als Therapeutin werden Sie nun natürlich zu dem Schluss kommen, dass mein Wunsch, die Medizin zu einem philosophischen Thema zu machen, eine Art evasives Verhalten darstellt.«
»Danke.« Frieda nahm den Kaffeebecher entgegen. »Zu diesem Schluss komme ich ganz und gar nicht. Ich kenne eine Menge Ärzte, die der Meinung sind, alles wäre gut, wenn es keine Patienten gäbe.«
»Sie wollen mir also von Ihrer Patientin erzählen?«
Frieda schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte, dass Sie mitkommen und sie sich ansehen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte er. »Wann?«
»Jetzt.«
»Jetzt? Wo hält die Frau sich denn auf?«
»In einer Klinik in Lewisham.«
»Warum um alles in der Welt sollte ich das tun?«
Frieda leerte ihren Kaffeebecher. »Ich glaube, Sie werden sie philosophisch interessant finden.«
»Dürfen wir das denn überhaupt?«, fragte Berryman.
»Man kennt mich dort«, antwortete Frieda. »Außerdem sind wir beide Ärzte. Ärzte kommen überall rein.«
Anfangs wirkte Berryman ein wenig enttäuscht von Michelle. Sie saß auf ihrem Bett und las äußerst konzentriert in der Zeitschrift Hello . Dabei machte sie einen völlig normalen Eindruck. Nachdem er und Frieda sich zwei Stühle herangezogen hatten, hängte Berryman seine schwere braune Wildlederjacke über die Rückenlehne. Durch das kleine Fenster sah man auf eine Wand aus tief hängendem grauem Gewölk. Ein heftiger Regenschauer begann herabzuprasseln.
»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte Frieda.
»Ja«, antwortete Michelle. »Ja.«
»Das hier ist Andrew. Wir würden beide gern ein bisschen mit Ihnen plaudern.«
Berryman musterte Frieda leicht irritiert. Während er sie quer durch
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