Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
bis unters Kinn zugeknöpft trug, war gerade mit einem Puzzle beschäftigt. Sie blickte auf und lächelte die beiden Besucher verstohlen an. Die Luft roch nach Fisch und Urin. Als die Schwester am Empfang Karlsson erkannte, begrüßte sie ihn mit einem Nicken.
»Wie geht es ihr denn heute?«, fragte er.
»Sie bekommt neue Medikamente und hatte eine ruhigere Nacht. Aber sie möchte ihre Sachen zurück. Ständig hält sie nach ihnen Ausschau.«
Der gestreifte Vorhang rund um Michelle Doyces Bett war zugezogen. Karlsson schob ihn ein Stück zur Seite und forderte Frieda mit einer Handbewegung auf einzutreten. Michelle saß in sehr gerader Haltung auf ihrem Bett. Sie hatte einen beigefarbenen Krankenhauskittel an, und ihr Haar war wie bei einem Schulmädchen zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten. Als Frieda sie musterte, fiel ihr sofort auf, dass ihr Gesicht etwas seltsam Undefiniertes hatte, als fehlten ihm klare Konturen: Sie wirkte wie ein Aquarell aus mehreren wässrigen Schichten: Ihre Haut schimmerte rosig, hatte zugleich aber einen leichten Gelbstich, ihr Haar war weder grau noch braun, und ihre Augen besaßen etwas eigenartig Stumpfes. Selbst ihre Gesten wirkten unbestimmt. Sie bewegte die Hände wie eine Blinde, die Angst hatte, etwas umzustoßen.
»Hallo, Michelle. Ich heiße Frieda Klein. Ist es in Ordnung, wenn ich mich hier hinsetze?« Sie deutete auf den Metallstuhl neben dem Bett.
»Der ist für meinen Freund.« Ihre Stimme klang leise und heiser, als wäre sie mangels Übung eingerostet.
»Kein Problem. Ich kann auch stehen bleiben.«
»Das Bett ist leer.«
»Darf ich mich zu Ihnen aufs Bett setzen? Ich möchte Ihnen nicht zu sehr auf die Pelle rücken.«
»Bin ich im Bett?«
»Ja, Sie sind im Bett. Im Krankenhaus.«
»Ja«, sagte Michelle. »Ich kann nicht nach Hause.«
»Wo sind Sie denn zu Hause, Michelle?«
»Nie.«
»Sie haben kein Zuhause?«
»Ich versuche, es schön zu machen. Alle meine Sachen. Vielleicht geht er dann nicht wieder weg. Vielleicht bleibt er.«
Frieda rief sich ins Gedächtnis, was Karlsson ihr über Michelles Sammelzwang erzählt hatte – ihre Flaschen und abgeschnittenen Fingernägel, alle fein säuberlich geordnet. Vielleicht hatte sie versucht, das triste Zimmer in einem heruntergekommenen Haus in Deptford in ein Zuhause zu verwandeln, indem sie es mit Habseligkeiten schmückte, die sie draußen fand – den ganzen Abfall aus dem Leben anderer Menschen. Vielleicht hatte sie versucht, die Leere ihrer Tage mit tröstlichen Dingen zu füllen.
»Wer ist denn der Freund, der bei Ihnen bleiben soll?«, fragte sie.
Michelle sah Frieda einen Moment an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Dann legte sie sich plötzlich flach aufs Bett.
»Setzen Sie sich neben mich«, sagte sie, den Blick starr nach oben gerichtet. An der Decke flackerten Neonröhren.
Frieda nahm Platz. »Wissen Sie, warum Sie hier sind, Michelle? Erinnern Sie sich an das, was passiert ist?«
»Ich gehe ans Meer.«
»Sie faselt die ganze Zeit vom Meer und vom Fluss«, erklärte Karlsson.
Frieda sah ihn an. »Sprechen Sie nicht über Michelle, als wäre sie nicht da«, wies sie ihn zurecht. »Entschuldigen Sie«, fuhr sie an Michelle gewandt fort, »Sie erwähnten gerade das Meer.«
Die Frau, die im Saal vor sich hin jammerte, stieß plötzlich einen schrillen Schrei aus, dann gleich noch einen.
»Einsam, einsam, einsam«, sagte Michelle. »Aber nicht für sie.«
»Für wen?«
»Sie kommen, um wieder nah zu sein. Wie er. Bewundernswert.« Die unerwarteten Silben quollen aus ihrem Mund wie Steine. Sie wirkte selbst überrascht. »Das ist nicht das richtige Wort. Es passt nicht.«
»Der Mann, der auf Ihrem Sofa saß …«
»Haben Sie ihn getroffen?«
»Wie haben Sie ihn kennengelernt?«
Ihre Miene wurde ratlos. »Drake am Fluss«, erklärte sie mit ihrer rostigen Stimme. »Er hat mich nie verlassen. Nicht wie die anderen.«
Sie streckte ihre raue Hand aus. Frieda zögerte einen Moment, ehe sie danach griff. Draußen vor den Vorhängen redete eine Schwester energisch auf die weinende Frau ein.
»Nie verlassen«, wiederholte Michelle.
»Hatte er einen Namen? Drake?«
Michelle starrte Frieda nur an. Dann wanderte ihr Blick zu ihren ineinander verschlungenen Händen hinunter: Friedas sauberen, glatten Fingern, die zu den Händen einer berufstätigen Frau gehörten, und Michelles eigenen, vernarbten und mit Hornhaut überzogenen, bei denen die Nägel abgebrochen waren.
»Haben Sie seine Hände
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