Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
gesehen?«, fragte Frieda, die Michelles Blick gefolgt war.
»Ich habe sie geküsst, wo es ihm wehtat.«
»Seinen wehen Finger?«
»Ich habe gesagt: ›Ei, ei, ei, ei.‹«
»Hat er mit Ihnen gesprochen?«
»Ich habe ihm Tee gemacht. Ich habe ihn mit offenen Armen aufgenommen. ›Mein Haus ist auch dein Haus‹, habe ich zu ihm gesagt und ihn dann gebeten, nicht wegzugehen. Ich habe am Anfang des Satzes ›bitte‹ gesagt und am Ende auch. Alle gehen weg, weil sie nicht wirklich da sind. Das ist das Geheimnis, das kein anderer versteht. Die Welt geht weiter, und nichts stellt sich ihr in den Weg. Da ist nur die leere Welt und dann das leere Meer. Man kann den Wind spüren, der ganz vom Anfang her kommt, und dann schaut einen der Mond an, und es dauert Hunderte, Hunderte Jahre, bis etwas zu sehen ist. Man wünscht sich einen letzten Ruheplatz. Wie er.«
»Sie meinen, wie der Mann auf Ihrem Sofa?«
»Er muss bloß ein bisschen rausgefüttert werden. Das kann ich.«
»Gab es einen Unfall?«
»Das habe ich alles weggeputzt. Ich habe ihm gesagt, dass es keine Rolle spielt und ihm nicht peinlich sein muss. Das passiert uns allen mal. Es macht mir Freude, Menschen zu helfen und ihnen Sachen zu geben, damit sie vielleicht bleiben wollen. Ihre Kleider zu waschen und ihnen das Haar zu kämmen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Ich könnte ihm sogar ein paar von meinen eigenen Sachen geben, wenn er gern bleiben würde.«
»Ist etwas passiert, als er bei Ihnen war, Michelle?«
»Er hat sich ausgeruht, und ich habe mich um ihn gekümmert.«
»Sein Hals war verletzt.«
»Der arme Schatz. Er fühlte sich so unwohl, bis ich ihn sauber machte und es ihm besser ging.«
»Wo haben Sie ihn kennengelernt?«
»Tja, also. Erst beim Träumen und dann beim Fischen, und dann war es natürlich der, der es nie lebend nach Hause geschafft hat.«
»Das bringt uns doch nicht weiter«, meldete Karlsson sich am Fußende des Bettes zu Wort.
»Michelle«, Friedas Ton blieb ruhig, »ich weiß, dass die Welt ein beängstigender und einsamer Ort ist. Aber mit mir können Sie reden. Manchmal macht es die Dinge ein bisschen besser, wenn man darüber spricht.«
»Worte«, sagte Michelle.
»Ja. Worte.«
»Stöckchen und Steine. Ich hebe sie auf.« Michelle streichelte über Friedas Handrücken. »Du hast ein nettes Gesicht, deswegen sage ich es dir. Sein Name war Schätzchen. Sein Name war Mein Liebling. Verstehst du?«
»Danke.« Frieda wartete noch ein paar Sekunden, ehe sie aufstand und ihre Hand wegzuziehen versuchte. »Ich muss jetzt gehen.«
»Kommst du wieder?«
»Das halte ich für keine gute Idee«, mischte Karlsson sich ein.
»Ja«, antwortete Frieda.
8
F rieda erriet, dass er es war, sobald er am unteren Ende der Straße auftauchte. Er rannte den steilen Hügel herauf, wobei er das Tempo seiner langen, dynamischen Schritte immer mehr beschleunigte, je näher er kam, sich selbst immer härter antrieb. Neben ihr hielt er an und beugte sich heftig keuchend vornüber. Obwohl es trotz des schönen, sonnigen Wetters ein recht kalter Morgen war, trug der Mann nur ein altes T-Shirt, eine Jogginghose und leichte Laufschuhe.
»Sind Sie Doktor Andrew Berryman?«
Der Mann entfernte ein Paar grüne Kopfhörer aus seinen Ohren. »Und wer sind Sie?«
»Ich wurde von einem Bekannten an Ihren Chef verwiesen, und der hat mir geraten, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Ich muss mit jemandem sprechen, der sich mit extremen psychischen Syndromen auskennt.«
»Warum?«, fragte Berryman. »Leiden Sie unter einem solchen?«
»Es geht um eine Frau, die ich kennengelernt habe. Mein Name ist Frieda Klein. Ich bin Psychotherapeutin und arbeite gelegentlich mit der Polizei zusammen. Die betreffende Frau ist in ein Verbrechen verwickelt, und ich würde mich gerne mit Ihnen über sie unterhalten. Darf ich mit hineinkommen?«
»Heute ist mein freier Freitag«, erklärte Berryman. »Hätten Sie nicht vorher anrufen können?«
»Er ist dringend. Ich würde nur ein paar Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen.«
Er überlegte einen Augenblick. »Also gut.«
Mit diesen Worten schloss er die Haustür auf und führte Frieda mehrere Stockwerke hinauf, bis er schließlich im obersten Stock seine Wohnungstür aufschloss. Frieda betrat einen großen, hellen Raum, der mehr oder weniger leer war. Es gab lediglich ein Sofa, einen blassen Teppich auf ansonsten blanken Holzdielen, ein ganz an die Wand gerücktes Piano und ein großes Panoramafenster mit
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