Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
Sie konnte sich zwar nicht mit ihm treffen, aber anrufen konnte sie ihn. Eigentlich hätte sie das schon längst tun sollen, um ihn wissen zu lassen, dass sie an ihn dachte. Sobald sie zu Hause angekommen war, blätterte sie das ledergebundene Notizbuch durch, das neben dem Telefon lag. Fündig geworden, wählte sie die Nummer. Es läutete endlos. Frieda machte sich gerade bereit, eine Nachricht zu hinterlassen, als es in der Leitung klickte.
»Frieda«, meldete sich die Stimme.
»Ja, Josef. Hallo! Wie schön, nach so langer Zeit deine Stimme zu hören. Wie geht es dir? Läuft alles gut bei dir? Du fehlst uns.«
»Wie es mir geht?«, wiederholte er. »Das ist eine schwierige Frage. Ich weiß die Antwort nicht.«
»Ist etwas passiert, Josef?«
»Ach, keine Ahnung. Wie geht es denn dir, Frieda? Wie läuft es so?«
»Wie immer«, antwortete sie, »zumindest im Großen und Ganzen. Aber erzähl mir von dir. Ich hätte viel früher anrufen sollen. Es tut mir leid, dass ich das nicht gemacht habe.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte er, »jeder hat eine Menge zu tun. Es passieren viele Dinge – Dinge, über die man am Telefon nicht gut reden kann.«
»Ich verfolge euer Wetter«, berichtete Frieda. »Sooft ich dazu komme, sehe ich mir das Wetter in Kiew an. Dort bist du doch noch, oder? Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, waren es bei euch minus neunundzwanzig Grad. Ich hoffe, du bist schön warm verpackt.«
Es entstand eine lange Pause, gefolgt von einem seltsamen Stöhnen.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Frieda. »Bist du noch dran?«
»Frieda, ich bin momentan gar nicht in Kiew.«
»Oh. Wo bist du dann?«
Er murmelte etwas, das sie nicht verstand.
»Wie war das? Ist das irgendwo auf dem Land?«
Er sagte den Namen noch einmal.
»Kannst du ein bisschen langsamer sprechen?«
Er sprach die drei Silben eine nach der anderen aus.
»Summertown?«, wiederholte Frieda. »Du meinst, wie Summertown in London?«
»Ja«, bestätigte Josef, »aber nicht wie . Summertown in London. Genau das.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Frieda wieder zusammenhängend sprechen konnte. »Du bist … du bist nur ungefähr fünfhundert Meter von mir entfernt!«
»Kann sein.«
»Was, zum Teufel, tust du hier?«
»Ich war in Schwierigkeiten.«
»Ich muss dich sehen.«
»Keine gute Idee.«
»Ich bin deine Freundin, oder hast du das vergessen?«, entgegnete Frieda. »Komm zu mir. Sofort.«
15
F rieda hatte Josef fast zwei Monate nicht mehr gesehen – das letzte Mal kurz vor Weihnachten, als er zum Andenken an das vorherige Weihnachtsfest, das sie zusammen verbracht hatten, ein traditionelles ukrainisches Gericht zubereitet und es ihr als Abschiedsgeschenk vorbeigebracht hatte, eingehüllt in weißes Leinen und dann in eine Schachtel verpackt, um die er eine Schleife gebunden hatte: kleine Küchlein aus Weizen, Honig und Mohn. Sie sah ihn noch genau vor sich: strahlend vor Stolz und fast übersprudelnd vor Großzügigkeit, zugleich aber auf eine fast feierliche Art aufgeregt. Nach vielen Monaten der Abwesenheit kehrte er in sein Heimatland zurück, um seine Frau Vera und seine beiden Söhne zu besuchen. Sein sonst so zotteliges Haar war kurz geschnitten, und er trug eine neue Steppjacke, um für das kalte ukrainische Wetter gewappnet zu sein. Für seine Söhne hatte er T-Shirts mit der Aufschrift »I love London« gekauft, außerdem kleine Union Jacks und Schneekugeln mit Miniaturausgaben verschiedener Londoner Wahrzeichen.
Der Josef, der nun vor ihrer Tür erschien, war ein völlig anderer. Sein Haar war lang, ungewaschen und voller Staub. Das Gestrüpp in seinem Gesicht hatte die Bezeichnung Bart kaum verdient, sondern sah aus, als hätte er sich einfach nicht zum Rasieren aufraffen können. Er trug eine alte Leinenhose, die von einem Plastikgürtel zusammengehalten wurde, und dazu einen dicken Pulli. Darüber hatte er besagte Steppjacke an, die inzwischen jedoch halb zerfetzt und sehr schmutzig war. Seine Stiefel wiesen Risse auf. Seine Hände wirkten rau und schwielig. Am Hals hatte er einen bereits etwas verblassten Bluterguss, und an seiner staubigen Stirn klebte ein Pflaster. Gekrönt wurde all das von einem schlaff aussehenden Gesicht und trüben Augen, die Friedas Blick auswichen. Die Wollmütze zwischen den Händen, stand er vor der Tür und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
Frieda griff nach seiner Hand, zog ihn in die Diele und schloss die Tür hinter ihm. Ein strenger Geruch nach Schweiß,
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