Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
schon weg.« Trotzdem blieb er noch einen Moment in der offenen Tür stehen. Sein Schal wehte im Wind, und sein Gesicht bekam in der kalten Luft sofort rote Flecken.
»Auf Wiedersehen.«
Nachdem er weg war, kehrte Frieda in ihren Sessel am Kamin zurück. Mehrere Minuten lang starrte sie reglos in die züngelnden Flammen, ohne etwas wahrzunehmen. Dann griff sie nach der Zeitung und las den Text Wort für Wort, Seite für Seite. Anschließend knüllte sie die einzelnen Seiten zu kleinen Kugeln zusammen und warf sie ins Feuer.
»Wie oft sehen Sie denn Ihre Schwester?«, fragte Frieda.
Sie kannte Rose seit gut einem Jahr. Damals wusste Rose nicht, ob sie überhaupt noch eine Schwester hatte. Sie war eine gramerfüllte, schuldbewusste junge Frau gewesen, verfolgt von dem kleinen Mädchen, das sie auf dem Heimweg von der Schule aus den Augen verloren und seitdem nie wieder gesehen hatte. Sie hatte sich verantwortlich gefühlt – nicht nur für die kleine Joanna, die sich in Luft aufgelöst hatte, sondern auch für ihre Eltern und deren Leid. Ihre Mutter hatte wieder geheiratet und zwei weitere Kinder bekommen, aber ihr Vater hatte zu trinken begonnen und jahrelang in seiner engen, schmutzigen Wohnung gesessen, benebelt von Whisky und Kummer.
Frieda hatte ein paarmal mit ihr gesprochen, seit ihre Schwester wieder aufgetaucht war. Im Grunde wirkte sie nun noch gequälter als vorher. Joanna, die zum Zeitpunkt ihrer Entführung ein zartes und verletzliches kleines Mädchen mit Zahnlücke und Knubbelknien gewesen war, hatte sich so sehr verändert, dass sie gar nicht mehr wiederzuerkennen war. Die Familienzusammenführung war total in die Hose gegangen, und Joanna hatte nur höhnische Verachtung für die anderen übrig – für Rose, für ihre Eltern und für die ganze Welt, die sie repräsentierten.
»Nicht sehr oft«, antwortete Rose. »Sie ist nicht allzu scharf darauf, mich zu sehen. Was ich nachvollziehen kann«, fügte sie eilig hinzu, »wenn man bedenkt, was sie alles durchgemacht hat.«
»Würden Sie sie gern öfter sehen?«
Rose biss sich auf die Unterlippe. »Wollen Sie meine ehrliche Antwort hören? Eigentlich nicht. Ich fürchte mich jedes Mal vor unserer Begegnung. Andererseits habe ich das Gefühl, ich sollte mich öfter mit ihr treffen.«
»Weil sie Ihre Schwester ist?«
»Weil sie meine Schwester ist. Und wegen all der Dinge, die sie durchgemacht hat. Weil …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
»Sie glauben immer noch, dass es Ihre Schuld war?«
»Ja, auch wenn ich genau weiß, was Sie gleich sagen werden.«
»Dann spare ich mir das lieber. Haben Sie ihr Buch gelesen?«
Rose schüttelte den Kopf. »Irgendwann werde ich es lesen«, antwortete sie. »Ich finde, ich sollte wissen, was sie zu sagen hat.«
»Besitzen Sie ein Exemplar?«
»Ja, ich habe schon ganz früh ein Leseexemplar erhalten. Mit einem Begleitzettel, auf dem stand, es sei ihr ausdrücklicher Wunsch gewesen, mir eines zukommen zu lassen.«
»Darf ich einen Blick darauf werfen?«
Rose wirkte verlegen. »Ich weiß aus der Zeitung, dass sie nicht sehr nett über Sie schreibt. Das tut mir leid.«
»Kein Problem«, entgegnete Frieda. »Das ist nicht der Grund, warum ich es sehen möchte.«
Der Umschlag von Unschuldig in der Hölle zeigte ein zartes kleines Mädchen mit flehend hochgereckten Armen. Den Hintergrund bildete ein grelles rotes Muster, das verdächtig an Flammen erinnerte. Frieda schlug das Buch auf. Unter die offizielle Widmung (»Für alle, die gelitten haben, ohne Hoffnung auf Rettung«) war eine persönliche Nachricht gekritzelt: »Für meine Schwester Rose, voller Vergebung und Verständnis, von deiner kleinen Schwester Jo-Jo.«
»Ach, du meine Güte!«, murmelte Frieda.
»Das ist schon in Ordnung«, entgegnete Rose, »sie meint es nur gut.«
»Glauben Sie?«
»Na ja, ich weiß es nicht.«
»Leihen Sie mir das Buch?«
»Sie wollen es wirklich lesen?«
»Ich bringe es Ihnen zurück, sobald ich damit durch bin.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, bei mir hat es keine Eile.«
»Gut. Joanna kann sich glücklich schätzen, Sie zur Schwester zu haben.«
Frieda wollte das Buch nicht bei sich daheim lesen. Dafür brauchte sie neutralen Boden. Sie überlegte, ob sie es mit in die Nummer 9 nehmen solle, aber selbst dort fühlte sie sich zu sehr zu Hause. Sie wollte sich diesen Ort nicht durch eine solche Lektüre vergällen. Am Ende entschied sie sich für eine Lösung, die sie schon des Öfteren gewählt hatte: Sie
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