Eisiges Blut
Tina sich Sorgen machte, dass die Leichen beschädigt
werden könnten, wies Darryl seine beiden Helfer an, die Plane wieder über den wesentlich kleiner gewordenen Eisblock zu werfen und diesen auf den Wagen zu hieven. Sie karrten den Eisblock um die Ecke und schoben ihn über die Rampe in den sicheren Hafen des meeresbiologischen Labors.
»Und jetzt?«, fragte Franklin und sah sich in dem Durcheinander um. Der Raum war vollgestopft mit zischenden Sauerstoffflaschen, einem Wirrwarr aus Instrumenten und in violettes Licht getauchte Wasserbecken mit fremdartigen Lebewesen.
»Ich möchte ihn hier hinein haben«, erklärte Darryl und trat auf das riesige Aquarium zu. Früher am Tag hatte er bereits die Unterteilungen herausgenommen, das alte Wasser abgelassen, das Becken von oben bis unten geschrubbt und anschließend mit frischem Meerwasser gefüllt. Die Dorsche hatte er zu einem Eisloch gebracht und sie dort ausgesetzt. Wenn sie immer noch Teil eines Experiments von jemand anders waren, dann hätte derjenige das deutlich sagen müssen. Durch die Eisschicht hatte er undeutlich gesehen, wie sie davongeglitten waren, und dann den dunklen Schatten entdeckt, der sich rasch genähert hatte. Ohne Zweifel ein Seeleopard, der plötzlich seinen Lunch erspähte. Das Leben in der Antarktis war gefährlich.
Franklin rollte die Karre bis an den Rand des Beckens, und Lawson kletterte ins Wasser. Er trug sein übliches Piratenkopftuch und sah ein bisschen aus wie ein Freibeuter, der zu seiner Prise watete.
»Du weißt, dass es eine Überschwemmung geben wird, wenn der Eisblock das Wasser verdrängt, oder?«, fragte Franklin.
»Genau dafür haben wir die Bodenabläufe. Macht schon.«
Während Lawson vom Becken aus anpackte, half Darryl Franklin, den Eisblock vorsichtig nach vorn zu kippen und über den Rand ins Becken gleiten zu lassen. Schließlich sprang Lawson zurück, das Eis landete platschend im Wasser, und eine Woge temperierten Salzwassers schwappte über den Rand auf den
Boden und über ihre Stiefel. Als die Plane sich löste, schaukelte der Eisblock mit den beiden Rücken an Rücken liegenden Toten eine Weile hin und her, bis die Wellen im Becken verebbten und der Block ruhig im Wasser schwamm.
Jetzt gehörten sie ihm.
Franklin schaute lange darauf, dann sagte er: »Ich würde mit denen hier nicht allein arbeiten wollen.«
Lawson, der völlig durchnässt aus dem Becken kletterte, sah aus, als ginge es ihm genauso.
Darryl jedoch war nicht im Geringsten beunruhigt. Sein Blick war auf den Eisblock geheftet, der jetzt flach im Wasser lag. Das Meerwasser bedeckte ihn gerade eben. Wenn seine Berechnungen, die auf der Dicke des Eises und dem Temperaturunterschied im Aquarium beruhten, korrekt waren – und im Allgemeinen stimmten seine Berechnungen –, würden die Leichen in nur wenigen Tagen frei im Wasser schwimmen. Kühl, immer noch intakt und in gutem Zustand.
Sobald Franklin und Lawson gegangen waren, machte er den Laden dicht. Im Moment konnte er nicht viel tun. Das Wichtigste war, dass er jetzt hinausging und ein paar von seinen Unterwassernetzen überprüfte, um zu sehen, ob sich ein paar neue Exemplare frostresistenter Fische darin verfangen hatten. Man wusste nie, wann oder wie ein paar zusätzliche Proben sich als nützlich erweisen würden.
Bevor er ging, schaltete er die Leuchtstofflampen an der Decke aus, aber das Labor wurde noch vom Aquarium und den kleineren Becken erhellt, die den Raum aus Beton und Stahl in ein violettes Licht tauchten. Nur die verstecktesten Winkel wurden von dem Licht nicht erreicht. Darryl zog seinen Parka, Handschuhe und Mütze an. Mit der Zeit wurde dieses ständige An- und Ausziehen lästig. Als er die Tür öffnete, schlug ihm ein eisiger Wind entgegen. Er zog die Tür fest hinter sich ins Schloss, stapfte die vereiste Rampe hinunter und weiter zum Strand.
Im Labor führten die verschiedenen Bewohner der Aquarien, die an den Wänden in Regalen aufgereiht waren, ihr ruhiges, beschränktes und letztendlich dem Untergang geweihtes Leben. Die Seespinnen standen auf ihren spindeldürren Hinterbeinen und untersuchten mit den anderen das Glas. Die Würmer bewegten sich durch das Wasser, indem sie sich aufrollten und wieder zusammenrollten wie elfenbeinfarbene Bänder. Die Seesterne saugten sich an den Wänden ihres Gefängnisses fest. Der großmäulige, perlmuttfarbene Eisfisch zog schwimmend seine endlosen, engen Kreise. Die Wasserschläuche blubberten, die Raumheizung summte, und
Weitere Kostenlose Bücher