Eisiges Blut
Ausrüstung ab, zog sich bis auf Kletterhosen und T-Shirt aus und band sich Kristin auf den Rücken. Ihre Arme schlackerten lose an den Seiten, und der zerschmetterte gelbe Helm lag an seiner Schulter. Dann begann er sich abzuseilen. Entweder schaffte er es bis nach unten und konnte sie aus dem Wald unter ihnen tragen, oder sie starben zusammen, falls sie unerwartet abstürzten.
Die ganze Zeit über sprach er leise auf sie ein. »Halt durch!«, sagte er. »Ich muss nur wieder Halt finden!« Oder: »Mach dir keine Sorgen, wenn mein Arm gerade wieder auskugelt.« Oder: » Was hältst du von einem großen Steak im Ponderosa? Du zahlst!« Ihr Kopf lag schlaff auf seiner Schulter, und manchmal spürte er
ihren warmen Atem an seinem Nacken, aber das genügte ihm. Michael wusste, dass sie bei ihm war, dass sie lebte und dass er sie irgendwie hier runterbringen würde. Am späten Nachmittag hatten Gewitterwolken den Himmel vollständig bedeckt, aber der Sturm war noch nicht losgebrochen. Nur ein feiner Nebel lag in der Luft, dessen Kühle ihm sogar angenehm war, und gelegentlich spürte er einen Regentropfen. »Bitte, Gott, tu mir einen einzigen Gefallen: Warte mit dem Regen, bis ich von diesem verdammten Berg runter bin.«
Und Gott hatte ein Einsehen gehabt. Michael schaffte es über den Hang am Fuße des Mount Washington und in den Schutz des Pinienwaldes, ehe die Hölle losbrach. Es donnerte gewaltig und goss in Strömen. Für einen kurzen Moment kniete er sich auf die nasse Erde und atmete den würzigen Duft der Piniennadeln ein, während der Regen auf ihn einprasselte. Er wusch den Schmutz aus Kristins Gesicht und befeuchtete ihre Lippen. Ihre Augenlider zuckten, wenn sie von Regentropfen getroffen wurden. Doch sonst gab sie kein Lebenszeichen von sich.
Er versuchte, sie erneut hochzuheben, doch seine Glieder zitterten vor Erschöpfung, und er konnte sich kaum noch rühren. Er scherte sich nicht darum. Er zog Kristin in seine Arme und lehnte sich gegen einen Baumstamm, den Blick auf die Äste über sich gerichtet. So lagen sie da, er wusste nicht, wie lange. Als er sich wieder rührte, klatschnass und zitternd, war es bereits dunkel. Der Regen hatte aufgehört, und der volle Mond stand am Himmel. Erneut legte er sich Kristin über den Rücken und taumelte im Mondlicht zum Parkplatz am Big Lake, wo er seinen Jeep abgestellt hatte. Als er aus dem Wald trat, dreckig, nass und blutend, mit einem bewusstlosen Mädchen auf dem Rücken, stieß er auf zwei junge Kerle in T-Shirts der University of Washington, die gerade einen Pick-up entluden. Als er auf sie zukam, sahen sie ihn an, als sei er ein Fabelwesen. »Hilfe«, stammelte er, »wir brauchen Hilfe.«
Und dann war er, nach Aussage der beiden Studenten, ohnmächtig zusammengeklappt.
Kaum hatte Darryl die beiden Figuren im Eis gesehen, da wusste er, dass der Zeitpunkt gekommen war, an dem er einschreiten musste. Inzwischen war genug Eis abgeschlagen oder von Michaels Scheinwerfern weggeschmolzen worden, dass man tatsächlich den Knauf eines Degens an der Seite des Mannes erkennen konnte. Eine goldene Quaste war so im Eis gefangen, dass es aussah, als würde sie in der Luft schweben.
»Ihr habt großartige Arbeit geleistet«, sagte er zu Betty und Tina, »aber jetzt lasst uns das hier ins Labor schaffen und den Job zu Ende bringen.«
Michael war zum Telefon gegangen, aber Betty und Tina taten, als warteten sie auf sein Urteil. »Michael kommt in ein paar Minuten zurück. Lass uns dann darüber reden.«
Aber Darryl war kein Dummkopf, und er ahnte, dass etwas im Gange war. Gib einem Wissenschaftler etwas wirklich Ungewöhnliches, und er wird es nicht wieder loslassen. Das galt vermutlich auch für Glaziologen. Forschung bestand zum Großteil aus Routinearbeiten im Labor, endlosen Experimenten, Blindtests und statistischen Analysen. Wenn Wissenschaftler wie aus dem Nichts auf etwas Bahnbrechendes stießen, das das Potential hatte, für Schlagzeilen außerhalb der Fachwelt zu sorgen, wollten sie es natürlich nicht wieder hergeben.
Er musste schnell und entschlossen handeln. Also eilte er zu den Ausrüstungsschuppen, wo die Schneemobile, Sprytes und Eisbohrer aufbewahrt wurden, und trommelte Franklin und Lawson zusammen, die bereits eingeweiht waren. Zusammen mit den beiden und einer Karre, die normalerweise dazu benutzt wurde, um die Fässer mit dem Dieselöl zu transportieren, kehrte er zum Eiskernlager zurück. Obwohl Betty sich über Darryls Eile beschwerte und
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