Eisiges Blut
natürlich zeigte ihr Gesicht keinerlei Regung und verriet keine Spur von Leben. Wann immer er sich in diesem Zimmer aufhielt, fühlte er sich hin- und hergerissen. Sollte er so reden, als sei Kristin anwesend, als könnte sie ihn hören und alles mitbekommen, was um sie herum geschah, obwohl er wusste, dass das unmöglich war? Oder sollte er so tun, als sei sie nicht da? Die erste Lösung kam ihm verlogen vor, die zweite grausam.
»Wusstest du, dass Krissy ein paar Bücher über die Antarktis hatte?«, sagte Karen. »Sie stehen immer noch im Regal in ihrem Zimmer. Über Ernest Shackletons Expedition und so. Möchtest du sie haben? Ich bin mir sicher, sie würde wollen, dass du sie bekommst.«
Inzwischen verteilten sie also schon ihren Besitz, während sie direkt daneben lag. Oder auch nicht. Wo war sie? War es möglich, dass da irgendetwas war, ein letzter Rest ihres Bewusstseins, den niemand wahrnahm, der aber dennoch existierte, irgendwo in der Leere des Universums?
»Danke, ich werde darüber nachdenken.«
»Aber erwähne es nicht in Gegenwart meiner Eltern. Sie glauben immer noch, dass Kristin eines Tages nach Hause kommt und alles wieder gut wird.«
Michael nickte. In diesem Punkt waren Karen und er sich einig, auch wenn sie im Allgemeinen nie darüber sprachen. Beide kannten die medizinische Diagnose und hatten sie akzeptiert. Karen hatte sogar die Bilder von der Tomographie gesehen, auf denen ausgedehnte Areale im Gehirn ihrer Schwester, die bereits
verödet waren, in Schwarz dargestellt waren. Michael gegenüber hatte sie es als ein düsteres Dorf beschrieben, in dem nur noch ein oder zwei winzige Lichter in den Fenstern schimmerten. Und selbst diese würden früher oder später immer schwächer werden, bis die Dunkelheit auch sie verschluckt hatte.
Michael hörte die dröhnende Stimme ihres Vaters draußen auf dem Gang. Er war der erfolgreichste Autohändler von Tacoma und behandelte jeden Menschen wie einen potentiellen Kunden. Jetzt begrüßte er die Krankenschwestern an der Rezeption. Michael stand auf und wechselte einen raschen Blick mit Karen. Beide wussten, was jetzt folgte und dass es keinen Weg gab, es zu vermeiden.
Als MrNelson durch die Tür kam und Michael am Bett sah, blieb er so abrupt stehen, dass seine Frau gegen seinen Rücken prallte. Karen erhob sich ebenfalls, bereit, Michael notfalls zu verteidigen.
»Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, dass Sie sich hier nie wieder blicken lassen sollen«, sagte ihr Vater.
»Michael ist nur gekommen, um sich zu verabschieden«, mischte Karen sich ein und stellte sich zwischen die beiden Männer.
MrsNelson schob sich an ihrem Mann vorbei, eine Tüte des Restaurants mit den Essensresten in der Hand. Michael war sich nie ganz sicher, auf wessen Seite sie stand. MrNelson, das war eindeutig, gab ihm die Schuld an dem Unfall. Er hatte Michael nie gemocht; aber er war auf jeden Mann eifersüchtig gewesen, der die Aufmerksamkeit seiner Tochter von ihm ablenkte. MrsNelson brachte selten mehr als drei Worte heraus, ehe ihr Mann sie unterbrach, und so war es schwer zu erraten, was sie über irgendetwas dachte.
Michaels einzige Verbündete war Karen. »Er ist gerade erst gekommen«, sagte sie jetzt. »Außerdem hätte Kristin sich gewünscht, dass er kommt.«
»Niemand weiß, was Kristin will … «
Michael stellte fest, dass ihr Dad instinktiv in der Gegenwartsform von Kristin sprach.
» … aber ich weiß, was ich will«, fuhr er fort. »Und was ihre Mutter will. Wir wollen, dass sie sich ausruht und wieder zu Kräften kommt, anstatt darüber nachzudenken, was geschehen ist. Solche Gedanken würden sie nur wieder zurückwerfen.«
»Es tut mir leid, dass Sie so empfinden«, wagte Michael zu sagen, »aber ich bin nicht hier, um Sie aufzuregen. Ich musste mich von Kristin verabschieden, und jetzt werde ich gehen.«
Michael wandte sich um, um einen letzten Blick auf Kristin zu werfen, die still und schweigend wie eine Statue dalag. Dann drängte er sich an den kräftigen Schultern ihres Dads vorbei, der sich weigerte, auch nur einen Zentimeter zur Seite zu weichen. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte er einen mitfühlenden Schimmer in MrsNelsons schüchternem Blick zu erhaschen.
Er hatte den Korridor zur Hälfte hinter sich gebracht, als er eilige Schritte hinter sich hörte. Es war Karen, und sie packte ihn am Ärmel, während sie sprach. Warum musste sie ihn nur so sehr an ihre Schwester erinnern? »Ich weiß, dass Kristin nicht da ist, aber
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