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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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es zuließ, konnte er sich fast einbilden, es ginge ihr gut. Das blonde Haar, das ihre Mutter ihr regelmäßig wusch, lag ausgebreitet auf dem Kissen, die Gesichtszüge wirkten entspannt, die Augen waren geschlossen. Nur ihre Haut, die früher stets sonnengebräunt gewesen war, war jetzt blass und fleckig, besonders um ihren Mund und die Nase herum. Zu viele Schläuche und Instrumente hatte man in sie hineingesteckt und wieder herausgezogen.
    Zu seiner Erleichterung gab es keine Spur von ihren Eltern. Michael öffnete den Reißverschluss seines Parkas und ging hinein. Doch beim Klang einer Stimme erstarrte er.
    »Hallo, Fremder.«
    Eine entsetzliche Sekunde lang war es, als würde Kristin wieder mit ihm sprechen. Doch dann drehte er sich um und sah ihre Schwester Karen, die sich auf einem Sessel in der Ecke zusammengerollt hatte.
    »Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte sie. Ein dickes Buch lag in ihrem Schoß, wahrscheinlich einer ihrer Gesetzestexte aus dem Jurastudium. Zu seinem Bedauern erinnerte sie ihn wie immer an ihre große Schwester. Sie sahen sich sehr ähnlich und hatten beide eindringliche blaue Augen, gerade weiße Zähne und strubbelige blonde Haare. Selbst ihre Stimmen klangen ähnlich, hatten stets einen ironischen, wissenden Unterton.
    »Hallo, Karen.« Er wusste nie, was er zu ihr sagen sollte, hatte es nie gewusst. Kristin war immer die Ungestümere von beiden gewesen, stets auf dem Sprung und immer unterwegs, während Karen, die ruhige, fleißige Studentin, sich am großen Esstisch in ihren Büchern und Papieren vergrub. Jedes Mal, wenn Michael Kristin abgeholt hatte, hatte er ein paar Worte mit ihr gewechselt, aber er hatte immer das Gefühl gehabt, sie bei etwas Wichtigem zu stören.
    »Und, wie geht es ihr?« Eine dumme Frage, das wusste er, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
    Karen lächelte auf die gleiche Art, wie Kristin gelächelt hatte, indem sie den rechten Mundwinkel leicht in die Höhe zog. »So wie immer.« Sie klang resigniert und zugleich so, als würde sie es akzeptieren. »Meinen Eltern ist es nur lieber, wenn möglichst immer einer von uns hier ist, also sitze ich hier, während sie bei Applebees kurz was essen.«
    Michael nickte und schaute auf Kristins Hand hinunter, die auf der Decke lag. Die Finger wirkten dünner und zerbrechlicher, als er sie in Erinnerung hatte, und an ihrem Ringfinger steckte ein kleiner schwarzer Fingerhut, vermutlich irgendein Messgerät.
    »Sie hatte in dieser Woche noch keinen Anfall oder so«,
sagte Karen. »Ich weiß nicht, ob das ein gutes Zeichen ist oder nicht.«
    Was
wäre
denn ein gutes Zeichen? Michael wusste, dass Kristin, die echte Kristin, die lebendige Kristin, diejenige, die jeden Gipfel mit ihm bezwingen und jeden Wald erforschen wollte, niemals wiederkommen würde. Worauf also hofften sie noch? Auf ein Zeichen, dass ihre Kräfte endgültig schwanden? Dass die Maschinen sie nicht ewig in diesem Schwebezustand halten konnten?
    »Darf ich mich zu ihr aufs Bett setzen?«
    »Fühl dich ganz wie zu Hause.«
    Vorsichtig ließ Michael sich auf der Bettkante nieder und legte seine Hand auf Kristins. Ihre Finger fühlten sich an wie die spröden Knochen eines Vogels.
    »Lernst du für die Uni?«, fragte er und deutete mit einem Kopfnicken auf den dicken Wälzer in Karens Schoß.
    »Die Gesetzgebung des Kongresses und ihre Reformen.« Mit einem Knall schloss sie das Buch. »Das Buch wird vermutlich demnächst verfilmt.«
    »Mit Tom Cruise?«
    »Ich denke da eher an Wilford Brimley.«
    Ein Pfleger kam herein, tauschte geschäftig die Plastiktüte im Mülleimer aus und warf sie in den großen Sack vor der Tür. Nachdem er wieder verschwunden war, sagte Karen: »Es ist schön, dich wiederzusehen. Was hast du in letzter Zeit so getrieben?«
    »Nicht viel.« Wie wahr! Karen wusste genau so gut wie jeder andere, dass er sich seit dem Unfall ziemlich gehengelassen hatte.
    »Aber ich wollte noch einmal vorbeikommen«, fügte er hinzu, »ehe ich die Stadt verlasse.«
    »Ach. Und wo geht’s hin?«
    »In die Antarktis.« Selbst in Michaels Ohren klang es noch ganz ungewohnt.
    »Wow. Recherchierst du wieder für einen Artikel?«
    »Ja, für den
Eco Travel
. Sie haben eine Genehmigung für mich organisiert, und ich werde einen Monat auf einer kleinen Forschungsstation in der Nähe des Südpols bleiben.«
    Karen legte das Buch auf den Boden neben dem Sessel. »Kristin wäre total neidisch.«
    Unwillkürlich schaute Michael zu Kristin hinüber. Doch

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