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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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angefertigt hatte und die immer noch am Leuchtkasten hingen. »Aber soweit ich sehen kann, ist alles in Ordnung, bis auf diesen verfluchten Weisheitszahn … « Endlich zog er einen Stift aus der Kitteltasche und kritzelte seine Unterschrift auf die gepunktete Linie. Michael war schon aus dem Stuhl aufgesprungen, ehe die Zahnarzthelferin ihm die Papierserviette abgenommen hatte.
    Die nächste Station war der Internist, bei dem er eine weitere Serie von Tests über sich ergehen lassen und eine ganze Flut von Papieren ausfüllen musste. Michael hatte im Laufe der Jahre überdurchschnittlich viele Unfälle erlitten – eine ausgerenkte Schulter, gerissene Sehnen und diverse gebrochene Knochen. Doch in Anbetracht seines Jobs, der es mit sich brachte, dass er sich an Orten aufhalten musste, an denen Menschen eigentlich nichts zu suchen hatten, war er noch mit relativ heiler Haut davongekommen. Der Internist fand nichts, worüber er sich Sorgen machen müsste. Er habe nur eine Frage, sagte er, bevor er das Attest unterschrieb.
    »Wie geht es Ihnen psychisch? Sind Sie zu der Therapeutin gegangen, die ich Ihnen empfohlen habe?«
    Diese Frage hatte Michael befürchtet.
    »Es ist wieder alles in Ordnung«, erwiderte er. »Sie hat mir
Lexapro verschrieben, das hilft großartig.« In Wirklichkeit konnte er nicht sagen, ob es überhaupt eine Wirkung hatte. Er wollte nur nicht riskieren, dieses Gesundheitsattest nicht zu bekommen. »Für mich ist es jetzt das Beste«, fuhr er fort und setzte dabei das strahlendste Gesicht auf, das er zustande brachte, »aus der Stadt rauszukommen und wieder zu arbeiten.«
    Der Arzt kaufte es ihm ab. »Da stimme ich Ihnen zu«, sagte er und setzte seine Unterschrift unter das Attest. »Ich wünschte, ich könnte selbst fahren.«
    Michael hätte nie gedacht, dass so viele Menschen von der Antarktis träumten.
    Es gab noch eine letzte Sache zu erledigen, und das war bei weitem die schwerste. Seit dem Lunch mit Gillespie hatte er gewusst, dass es dazu kommen würde. Er hatte alles getan, um diesen Moment so weit wie möglich hinauszuzögern, und sich kopfüber in die Reisevorbereitungen gestürzt. Er hatte sein Zeitungsabo abbestellt, die Nachbarn gebeten, ein Auge auf das Haus zu werfen und die Heizung anzustellen, falls es Frost gab. Mehrere Stunden hatte er im Fotogeschäft von Tacoma verbracht und jeden Akku, jedes Stativ und Objektiv und jeden Blitz gekauft, den er eventuell brauchen könnte. Sicher, er hatte bereits jede Menge von dem Zeugs, aber auf einer Expedition wie dieser, an einen Ort, an dem es keine Möglichkeit gab, einen defekten Belichtungsmesser zu ersetzen oder andere Ausrüstungsteile aufzutreiben, wollte er sichergehen, dass er alles dabei hatte, was er brauchte. In gewissem Sinn war er dankbar für all die Ablenkungen. Ausnahmsweise war er einmal nicht vollkommen gefangen in einem Teufelskreis aus Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen. Er konnte sich auf etwas anderes konzentrieren, auf etwas, das ihm in allernächster Zukunft bevorstand.
    Doch er hatte diese letzte Aufgabe immer im Kopf, und schließlich konnte er sie nicht länger aufschieben. Ein Besuch im Tacoma Regional Hospital war überfällig.
    Auf der Station für Komapatienten.
    Dort, wo er nicht willkommen war.
    Auf dem Weg zum Krankenhaus wappnete er sich gegen jede mögliche Konfrontation. Kristins Eltern waren fast immer dort, mindestens einer von beiden. Doch wenn er abends zur Essenszeit auftauchte, würde er ihnen womöglich nicht über den Weg laufen. Als er in der Station ankam, sagte die Schwester: »Wie schön, Sie wiederzusehen, MrWilde. Kristin wird sich freuen, dass Sie gekommen sind.« Er trug sich in die Besucherliste ein, und als er den Gang entlangging, fragte er sich, was die Schwester mit ihren Worten gemeint haben könnte.
    Kristin lag seit Monaten im Koma. Und obwohl Michael nicht zur Familie gehörte und die Ärzte ihm strenggenommen gar nichts hätten sagen dürfen, hatte man ihn darüber informiert, dass sie vermutlich nie wieder aufwachen würde. Der Sturz war zu heftig gewesen, sie war zu spät ins Krankenhaus gekommen, und das Gehirn war zu schwer verletzt. Im Grunde genommen war Kristin bereits tot.
    Alles, was von ihr übriggeblieben war, war eine stumme Hülle. Sie war so dünn, dass sie unter der hellblauen Decke kaum zu erkennen war. Ein Wirrwarr aus Schläuchen und blinkende, piepende Monitore umgaben sie. Vor ihrem Zimmer blieb er stehen und spähte durch die Jalousien hinein. Wenn er

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