Eisiges Blut
das wertvollste Objekt gestohlen worden. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand das allein geschafft hat«, erklärte er. »Wie soll er die beiden Leichen aus dem Becken bekommen und auf den Schlitten manövriert haben, und das in dem begrenzten Zeitraum zwischen dem Moment, in dem ich zuletzt im Labor war, und dem, als wir feststellten, dass sie fehlen?« Kopfschüttelnd fuhr er fort: »Man bräuchte mindestens zwei Leute, um die Leichen wegzuschaffen.«
»Und?«, fragte Murphy, »was willst du damit sagen? Weißt du, wer dafür in Frage kommt?«
Darryl nippte an seinem Kaffee und sagte dann: »Was ist mit Betty und Tina? Bist du sicher, dass du sie überprüft hast?«
»Warum um alles auf der Welt sollten die beiden so etwas tun?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Darryl verzweifelt, »aber vielleicht wollten sie die Arbeit selbst machen. Womöglich dachten sie, ich hätte sie ihnen weggenommen. Vielleicht haben sie auch noch ganz andere Pläne.« Er klang nicht nur, als würde er sich an einen Strohhalm klammern, sondern auch, als ob er es wüsste. Verdrossen hob er die Hände und ließ sie wieder in den Schoß fallen.
»Ich werde der Sache nachgehen«, sagte Murphy und klang nicht besonders überzeugt.
»Bis die Sache geklärt ist, will ich ein Schloss für mein Labor haben«, erklärte Darryl. »Meinen Fischen darf nichts passieren.«
»Du glaubst allen Ernstes, jemand würde zurückkommen und auch noch deine Fische klauen?«, fragte Murphy. »Schon gut, ich organisiere ein Schloss für dich.«
29 . Kapitel 13 .Dezember, 22 : 30 Uhr
Während Sinclair mehrmals hin und her ging, um die Proviantvorräte aus dem Schlitten zu holen, versuchte Eleanor sich in der Sakristei nützlich zu machen. Sie nahm die Wolldecke von der Liege und stellte fest, dass sie steif wie ein Brett war. In einer Ecke fand sie einen alten Besen, mit dem sie die Hinterlassenschaften der Nagetiere auf dem Boden wegzufegen versuchte. Sie öffnete die Klappe des schmiedeeisernen Ofens und entdeckte eine mumifizierte Ratte, die auf einem Bett aus Spänen und Stroh lag. Sie hob sie am Schwanz hoch, warf sie aus dem Fenster und schloss die Läden wieder. Auf dem Tisch fand sie neben einem Kerzenstummel ein Päckchen Streichhölzer und konnte zu ihrer Verwunderung eines davon entzünden. Sie hielt es an den Zunder, und kurz darauf brannte ein kleines Feuer im Ofen.
Sie dachte, Sinclair würde sich freuen. Doch nachdem er einige Bücher und die Flaschen aus dem Schlitten abgesetzt hatte, blickte er missbilligend auf das Feuer. »Der Rauch aus dem Schornstein wird uns verraten«, sagte er.
Wem?, dachte sie. Gab es im Umkreis von mehreren Meilen überhaupt eine lebende Seele? Bei dem Gedanken, dieses winzige, freundliche Feuer zu löschen, wurde ihr das Herz schwer.
»Aber der Sturm wird den Rauch zerteilen«, dachte er laut. »Mach nur, meine Liebe.«
Er ging wieder nach draußen, und Eleanor sank, plötzlich all
ihrer Kraft beraubt, auf die Liege. Die Anstrengungen der letzten Stunden waren zu viel gewesen. Sie fühlte sich, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht und legte sich, immer noch in den Mantel gehüllt, auf die raue, gestreifte Decke. Der Raum um sie herum drehte sich. Sie schloss die Augen und klammerte sich mit einer Hand an die Liege, so wie sie es auf der entsetzlichen Reise nach Konstantinopel vor so vielen Jahren getan hatte. Das Schiff, ein Dampfschiff mit dem Namen
Vectis
, hatte in der schweren See gestampft und war gerollt, und nachdem es den Hafen von Marseille verlassen hatte, waren die Maschinen eine Zeitlang ausgefallen. Moira war überzeugt gewesen, dass sie alle sterben würden, dass das Schiff im Sturm untergehen und alle mit ihm ertrinken würden. Eleanor hatte sie trösten müssen, bis sich am nächsten Morgen das Wetter schlagartig besserte und die Schiffsmaschinen wieder ansprangen. Viele der Krankenschwestern waren seekrank geworden, und die Matrosen mussten sie auf das Achterdeck tragen, wo sie sich an der frischen Luft und im Sonnenschein wieder erholten. Moira war an der Reling auf die Knie gesunken und hatte eine wahre Flut von Gebeten ausgestoßen.
Miss Florence Nightingale, die selbst unter der rauen Überfahrt gelitten hatte, war direkt an ihnen vorbeigekommen und hatte den Kopf in ihre Richtung geneigt. Sie stützte sich auf den Arm ihrer Freundin, MrsSelina Bracebridge. Selina war verheiratet, im Gegensatz zu Florence, die als bekannteste unverheiratete Frau der Britischen Inseln galt. Doch die
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