Eisiges Blut
dass er nicht lange da bleibt«, sagte sie zu Franklin.
»So lange, bis das nächste Flugzeug es hierher schafft«, erwiderte er und stapfte bereits in Richtung Kantine davon. Michael trödelte noch etwas herum. Er hatte eine großzügige Scheibe kalten Röstschinken für seine kleine Raubmöwe in der Tasche,
und als er sie herauszog, lächelte Betty. »Ollie wird ganz aus dem Häuschen sein.«
Michael fegte den Schnee weg, der sich erneut vor der Kiste aufgehäuft hatte, kniete sich hin und schaute hinein. Da hockte er, größer als je zuvor, und der graue Schnabel ragte aus dem Nest aus dünner Holzwolle heraus. Als er seinen Wohltäter erkannte, plusterte der Vogel sich auf und kam schwankend auf die Füße. Michael hielt ihm den Schinken hin, und nachdem er ihn einen Moment lang betrachtet hatte, stürzte Ollie sich nach vorn, schnappte ihn sich und schlang ihn herunter. »Nächstes Mal sollte ich etwas Meerrettich mitbringen«, sagte Michael. Der Vogel sah zu ihm hoch, vielleicht wartete er auf mehr. »Eines Tages wird er wegfliegen«, sagte Michael über die Schulter, und Betty lachte leise.
»Was, und auf diese Leckerbissen verzichten?«
Als Michael wieder aufstand, sagte sie: »Sei ehrlich. Dieser Vogel ist zahm und würde wahrscheinlich keinen Tag in der Wildnis überleben. Dort wird nämlich kein gerösteter Schinken serviert.«
»Aber was passiert, wenn meine Zeit hier vorbei ist?«, fragte Michael. »Ich kann ihn schlecht mit zurück nach Tacoma nehmen.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Betty. »Tina hat bereits die Adoptionspapiere unterschrieben. Ollie wird es gut gehen.«
Das beruhigte ihn, zumindest was diesen Punkt anbelangte. Es schien so lange her zu sein, dass er irgendetwas auf dieser Welt verbessern konnte, dass er für jede unerwartete Möglichkeit dankbar war. Vielleicht ließ sich der Fluch, der seit dem Unglück in den Kaskaden auf ihm zu liegen schien, am Ende doch noch aufheben. In winzig kleinen Schritten.
Als er in Richtung Gemeinschaftsraum schlenderte, kam er an einem der Suchtrupps vorbei, die Murphy losgeschickt hatte. Er erkannte Calloway, den Tauchleiter, doch der zweite Hiwi hatte
seine Mütze mit dem breiten Schirm und den Ohrschützern so weit nach unten gezogen, dass Michael ihn nicht identifizieren konnte. »’n Abend, Kumpel«, rief Calloway und winkte mit der Taschenlampe, während Michael grüßend die behandschuhte Hand hob. »Wenn du irgendwelche verirrten Hunde siehst«, fügte Calloway hinzu, »sag mir Bescheid, okay?«
»Du erfährst es als Erster!«
Als er sich dem meeresbiologischen Labor näherte, sah Michael, dass darin noch Licht brannte, und selbst bei dem Wind hörte er die Klänge von klassischer Musik. Er machte einen Schlenker zum Labor und versuchte, die Tür zu öffnen, doch es ging nicht weiter, weil von innen ein Seil um die Klinke gebunden worden war.
»Wer ist da?«, hörte er Darryl rufen.
Michael brüllte zurück. »Ich bin’s, Michael.«
»Warte.«
Darryl kam zur Tür, wickelte das Seil von der Klinke und ließ ihn eintreten.
»Das ist ja das reinste Hightech-Sicherheitssystem, das du hier hast«, sagte Michael und stampfte den Schnee von den Stiefeln.
»Ich werde es benutzen, bis Murphy mir ein richtiges Schloss einbaut.«
»Aber es funktioniert nur, wenn du im Labor bist. Was machst du, wenn du nicht hier bist?«
»Dann hänge ich ein Schild auf.«
»Und was steht darauf?«
»Dass mehrere giftige Amphibien aus ihren Aquarien ausgebrochen sind und dass sie alle bissig sind.«
Michael lachte. »Und du glaubst, das wird funktionieren?«
»Nein, eigentlich nicht«, gab Darryl zu und kehrte zu seinem Laborstuhl zurück. »Ich glaube, die Diebe haben ohnehin schon das Einzige, was sie wirklich haben wollten.«
Auf der Arbeitsplatte vor Darryl lag ein etwa dreißig Zentimeter
langer Fisch. Er war von oben bis unten aufgeschnitten und mit Nadeln auseinandergespreizt. Das ganze Tier war nahezu durchsichtig, die Kiemen waren weiß, und das Blut, wenn es überhaupt Blut war, hatte nicht mehr Farbe als Wasser. Nur die starren, toten Augen schimmerten golden. Michael fühlte sich unangenehm an den Biologieunterricht in der Highschool erinnert. Das nächste Opfer wartete bereits und schwamm fast bewegungslos am Boden eines supergekühlten Beckens mit eisbedecktem Rand. Vor dem Becken stand eine Reihe von Glasbehältern in der Größe von Schnapsgläsern. Alle Gläser waren mit einer Lösung gefüllt, aber ein paar enthielten auch kleine
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