Eisiges Blut
sich.
Einige der Männer schliefen noch, doch viele warfen sich auf ihren Pritschen hin und her, elend vom Fieber oder von Schmerzen gepeinigt, mit glasigem Blick und ausgedörrten Lippen. Zwei oder drei von ihnen streckten die Arme aus, als sie vorbeihastete, aber sie durfte ihr Flehen nicht beachten und musste an ihre Mission denken. In weniger als einer Stunde musste sie zurück auf ihrem regulären Posten sein.
Als sie sich dem Krankensaal näherte, kam sie an einem der Wagen mit den chirurgischen Instrumenten vorbei, die für das blutige Tagesgeschäft vorbereitet wurden. Ein Krankenwärter mit Segelohren und abstehenden Haaren sagte: »Guten Morgen, Missus! Sie sind aber früh dran!« Der Zweite, ein dickleibiger Kerl mit üblen Narben im Gesicht, sagte: »Leisten Sie uns bei einer Tasse Tee Gesellschaft?« Er hob einen zerbeulten Kessel vom Wagen. »Ist noch heiß.«
Eleanor lehnte ab und eilte durch den Saal zu dem Bett in der Ecke, wo sie Le Maitre hellwach vorfand. Durch das zerbrochene Fenster starrte er auf die frühe Dämmerung.
Neben seinem Bett kniete sie nieder, und erst als sie sagte: »Da bin ich wieder!«, schien er Notiz von ihr zu nehmen. »Und sehen
Sie, was ich mitgebracht habe«, sagte sie und zeigte ihm das Papier und den Stift.
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nickte ihr zu. »Und das hier«, sagte sie und hielt das saubere Hemd in die Höhe. »Wir werden Ihnen das alte ausziehen, und das frische Hemd an, sobald ich etwas Wasser zum Waschen gefunden habe.« Er blickte sie an, als verstünde er kaum, in welcher Sprache sie mit ihm redete. Die Nacht hatte ihn anscheinend seiner letzten Kräfte beraubt.
»Frenchie«, sagte sie mit leiser Stimme. »Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass ich nicht einmal Ihren richtigen Vornamen kenne.«
Zum ersten Mal lächelte er. »Den kennen nur wenige.«
Sie war so froh, dass noch ein Funken Leben in ihm steckte.
»Ich heiße Alphonse.« Er hustete trocken, und fügte dann hinzu: »Jetzt wissen Sie, warum ich ihn selten verrate.«
Sie hockte sich auf die Bettkante, wobei sie sorgfältig darauf achtete, seine verletzten Beine nicht zu berühren, und strich das Papier auf ihrem Schoß glatt. »Ist es ein Brief an Ihre Familie?«
Er nickte und diktierte ihr eine Adresse in West Sussex. Sie schrieb sie auf und wartete.
»Chers Père et Mère, Je vous écris depuis l’hôpital en Turquie. Je dois vous dire que j’ai eu un accident – une chute de cheval – qui m’a blessé plutôt gravement.«
Eleanors Stift schwebte in der Luft. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass in der Familie Le Maitre tatsächlich Französisch gesprochen wurde. »Ach herrje«, sagte sie. »Ich kann kein Französisch.« Sie blickte auf und sah, dass er die Augen geschlossen hatte, um seine Gedanken besser sammeln zu können. »Können Sie das auch in Englisch sagen?«
An den Türen des Krankensaals ertönte das Klappern von Rädern, und mehrere erregte Stimmen waren zu vernehmen. Das Lazarett wachte auf.
»Natürlich.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.
»Wie dumm von mir. Es ist nur, zu Hause … « Er verstummte, dann setzte er erneut an. »Mein lieber Vater, meine liebe Mutter, ich schicke Euch diese Worte aus einem Hospital in der Türkei. Eine Freundin schreibt sie nieder.«
Das Klappern wurde lauter.
»Leider bin ich verwundet worden, durch einen Sturz mit meinem Pferd.«
Eleanor kritzelte die Worte nieder, dann blickte sie auf und sah, wie der Pfleger mit den Segelohren den chirurgischen Wagen auf ihre Ecke zuschob, als sei es ein Blumenwagen. Der andere Mann trug einen weißen Wandschirm, zusammengerollt wie ein Segel, unter dem Arm. An ihren Absichten konnte kein Zweifel bestehen.
»Ach, könnten Sie nicht noch einen kurzen Moment warten?«, bat Eleanor und erhob sich.
»Befehl vom Doktor«, sagte der Erste, während der Zweite den Fuß des Wandschirms auf den Boden fallen ließ und ihn schnell ausklappte, um das Bett vor Blicken abzuschirmen. Bis zu Miss Nightingales Ankunft hatte man alle Amputationen unter den Augen der anderen Patienten vorgenommen. Doch Miss Nightingale bestand auf den Schirmen, nicht nur, um die Privatsphäre des Amputierten zu schützen, sondern auch, um den anderen den grausigen Anblick dessen zu ersparen, was ihnen selbst vielleicht als Nächstes bevorstand.
»Der Lieutenant hat gerade angefangen, mir einen Brief an seine Familie zu diktieren. Können Sie nicht zuerst jemand anderen
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