Eisiges Blut
Murphy. Er nahm die Schultern und Charlotte die Füße. So vorsichtig und respektvoll wie möglich hoben sie den Leichnam an und legten ihn auf die Kiste. Als Charlotte sich wieder aufrichtete, fiel ihr Blick auf den
schwarzen Schriftzug, der in das Holz eingebrannt war:
Heinz Gewürzmischungen
.
»Und warum ist das besser, als ihn zur Autopsie auf die Krankenstation zu bringen?«
»Weil wir es hier geheim halten können, zumindest für eine Weile. Außerdem ist es hier sicherer.«
»Sicherer?« Sie wusste nicht, was mit Danzig passiert war, aber glaubte der Chief tatsächlich, dieser zerfetzte Leichnam würde wieder auferstehen?
Murphy gab keine Antwort, aber sein Gesichtsausdruck gefiel ihr ganz und gar nicht, ebenso wenig wie die Handschellen – Handschellen? – die aus seiner Gesäßtasche baumelten. »Lass mich bitte eine Minute allein, ja? Ich komme gleich raus.«
Charlotte ging hinaus und blieb auf der Rampe stehen. Der Wind war wieder stärker geworden, ein weiterer Sturm war im Anzug. Was um alles auf der Welt ging hier vor? Zwei Tote innerhalb weniger Tage? Obwohl sie es schrecklich fand, auch nur daran zu denken, fragte sie sich, ob es sich womöglich negativ auf ihr Zeugnis als diensthabende Ärztin von Point Adélie auswirken könnte.
»Fertig«, sagte Murphy, als er hinter ihr auftauchte. Er sicherte die Tür mit einem Schloss und einer Kette, die in einer engen Kunststoffumhüllung steckten, um die Feuchtigkeit fernzuhalten. »Ich habe Onkel Barney erklärt, dass dieser Schuppen bis auf weiteres tabu ist.«
Charlotte schwor sich, nur um sicher zu gehen, nie wieder Heinz Gewürzmischungen zu benutzen.
»Ich brauche dir wohl nicht extra zu sagen, das alles für dich zu behalten. Zumindest, bis wir die Sache in den Griff bekommen haben – besonders Danzig.«
16 . Dezember,
14 : 00 Uhr
Eleanor wusste nicht genau, was geschehen war. Sie erinnerte sich, dass ihr jemand zur Kirchentür geholfen hatte, oder besser, sie dorthin getragen hatte. Anschließend hatte man sie auf eine schwerfällige Maschine gehoben, auf eine Art schmalen Sattel. Der Mann, der sich ihr mit Michael Wilde vorgestellt hatte – war er womöglich Ire? – hatte vor ihr Platz genommen und sie aufgefordert, die Arme um ihn zu legen. Doch das ging zu weit, und sie hatte mit aller verbleibenden Kraft protestiert.
Also hatte der andere Mann ein Seil aus dünnen, aber stabilen Fasern um sie geschlungen und die Kapuze fest um ihren Kopf zugezogen. Wie ein Hengst jagte die Maschine dröhnend über das Eis, und der Wind und die eisige Gischt waren so heftig, dass sie, ob es ihr nun gefiel oder nicht, ihren Kopf vorbeugen und das Kinn auf MrWildes Rücken stützen musste. Kurze Zeit später umfasste sie ihn mit beiden Armen, um das Gleichgewicht zu halten.
Wenn die Kapuze nicht gewesen wäre, hätte der Lärm sie womöglich ertauben lassen, doch als sie durch die karge Landschaft flogen, fühlte sie sich davon auf merkwürdige Weise eingeschläfert. Den ganzen Tag über war sie immer schwächer geworden und hatte darum gekämpft, der Verlockung der schwarzen Flaschen zu widerstehen, die Sinclair in der Sakristei gelassen hatte. Jetzt spürte sie, wie ihre letzten Kräfte schwanden. Sie schloss die Augen, und ihre Glieder entspannten sich. Sie fühlte sich kraftlos, aber es war kein unangenehmer Zustand. Das Rütteln des Gefährts erinnerte sie an das Hämmern der Dampfmaschine auf dem Schiff, das sie unter dem stets wachsamen Blick von Miss Nightingale auf die Krim gebracht hatte. Oje, was würde ihre Arbeitgeberin zu einer Szene wie dieser sagen? Sie wusste sehr gut, dass Miss Nightingale es missbilligte, wenn ihre Krankenschwestern allzu engen Kontakt zu den Soldaten hatten oder
die Anstandsregeln missachteten. Skandale mussten um jeden Preis vermieden werden, und so freundlich sie auch mit den Soldaten umgehen mochte, so humorlos und unnachgiebig trat Miss Nightingale ihren weiblichen Angestellten gegenüber auf.
An jenem Morgen, nachdem sie Frenchie unter den Verwundeten gefunden hatte, war Eleanor klug genug gewesen, eine Stunde früher aufzustehen und sich so leise wie möglich aus dem Quartier der Krankenschwestern zu schleichen. Die Stiegen lagen noch im Dunkeln, und zweimal wäre sie beinahe gestolpert, als sie aus dem Turm und zurück in den Krankensaal eilte, in dem Lieutenant Le Maitre lag. Zusätzlich zu einem sauberen Hemd trug sie ein Blatt Papier und einen Bleistiftstummel in der Tasche ihres Kittels bei
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