Eisiges Blut
Ende des Tales erblickte Sinclair eine Rauchwolke, rund wie der Kopf einer Pusteblume. Eine Sekunde später war das Donnern der Kanonen zu hören, und eine Fontäne aus Dreck und Gras spritzte in die Höhe. Die Kugel hatte ihr Ziel verfehlt, doch Sinclair wusste, dass die russischen Kanoniere nur die Entfernung abschätzten. Die Frontlinie war noch nicht mehr als fünfzig oder sechzig Meter vorgerückt, als Captain Nolan zu Sinclairs Erstaunen durch die Reihen brach und, unter völliger Missachtung der militärischen Etikette, Lord Cardigans Weg kreuzte und dabei seinen Degen schwenkte. Er drehte sich in seinem Sattel um und rief Cardigan etwas zu, das im anschwellenden Kanonendonner unmöglich zu verstehen war. Einen Moment lang glaubte Sinclair, Nolan habe vollkommen den Verstand verloren und versuche, die Führung zu übernehmen. Doch ehe Cardigan auch nur auf diese schockierende Vorstellung reagieren konnte, explodierte eine russische Kanonenkugel im Dreck, und ein
Splitter zerriss Captain Nolans Brust mit solch einer Gewalt, dass Sinclair das pulsierende Herz des Mannes sehen konnte. Er hörte einen Schrei, wie er ihn nie zuvor gehört hatte, während Nolans blutiger Leib, der sich immer noch irgendwie aufrecht im Sattel hielt, von seinem panischen Pferd zurück durch die Reihen getragen wurde. Der Degen war Nolan aus der Hand gefallen, doch den Arm hielt er weiterhin ausgestreckt, als versuchte er immer noch, den Angriff anzuführen. Der Schrei hörte nicht auf, bis das Pferd in das 4 . Dragonerregiment flüchtete, wo der Leichnam, endlich verstummt, vom Sattel kippte.
»Guter Gott«, murmelte Rutherford. »Was hatte der Mann vor?«
Sinclair hatte keine Ahnung, aber dass Captain Nolan, der fähigste Reiter der gesamten britischen Kavallerie, so früh getötet wurde, verhieß nichts Gutes. Das Marschtempo der Brigade erhöhte sich, aber nur wenig. Lord Cardigan, der sich nicht einmal umgewandt hatte, um sich Captain Nolans Schicksals zu vergewissern, führte die Truppen vor aller Augen in geschlossener Formation und genau bemessenem Tempo an. Es war, als hielten sie nur eine Übung auf dem Exerzierplatz ab, anstatt in ein immer stärkeres Gefechtfeuer zu marschieren.
»Aufschließen!«, hörte Sinclair Sergeant Hatch hinter sich brüllen, damit die Reiter nachrückten und die Lücken füllten, die die gefallenen Männer und Pferde hinterließen. »Aufschließen bis zur Mitte!«
Das Tempo erhöhte sich. Ajax senkte den kastanienbraunen Kopf mit der Blesse auf der Stirn und trug Sinclair brav weiter. Der Degen und die Degentasche schlugen gegen seine Seite, und den Helm hatte er tief ins Gesicht gezogen, um die Augen vor der gleißenden Sonne zu schützen. Der Lanzenschaft wurde ihm schwer in der Hand, und er sehnte sich nach dem Befehl, sie zu senken und sich unter den Arm zu klemmen. Und er betete, dass er lange genug leben würde, um sie einzusetzen.
Auf halber Strecke durch das Tal geriet die Brigade von beiden Seiten in das vernichtende Kreuzfeuer der Kanonen und Gewehre von den Fedioukine- und den Causeway-Höhen. Musketenkugeln und Kanonensplitter, Kartätschen und Patronen zischten und loderten in ihren Reihen auf, rissen die Flanken der Tiere auf oder ihre Reiter aus dem Sattel. Die Männer konnten ihre panischen Tiere nicht länger zurückhalten, ebenso wenig wie sich selbst, und die Reihen gerieten zunehmend in Unordnung. In dem verzweifelten Versuch, der Hölle zu entkomme, fielen die Pferde in Galopp. Sinclair vernahm Hochrufe und Gebete, unter die sich das gequälte Wiehern der verwundeten Pferde und die Schreie der sterbenden Männer mischten.
»Vorwärts, 17 . Lancers!«, hörte er Sergeant Hatch brüllen, während sein Pferd rechts neben Sinclair vorbeipreschte. »Sollen die Kerle vom 13 . etwa vor uns ankommen?«
Sinclair fragte sich, wo der junge Owens steckte, oder sein Pferd. Er hatte nicht gesehen, dass der Mann getroffen worden war.
Das Horn ertönte, und endlich senkte Sinclair seine Lanze und gab Aj ax die Sporen. Das Schlachtfeld war so voller Rauchwolken, aufgewirbeltem Staub und Geröll, dass Sinclair die Geschützstellungen vor sich kaum erkennen konnte. Er sah das aufblitzende Feuer und hörte, wie die Kugeln zwischen den Reihen einschlugen und ein Dutzend Männer auf einmal töteten, als wären sie Kegel. Der Lärm war ohrenbetäubend, so laut und rau, dass er nur noch ein einziges Getöse wahrnahm. Seine Augen brannten vom Rauch und Feuer, und das Blut pulsierte in seinen
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