Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
Vom Netzwerk:
dem er heisere Stimmen und Klaviermusik hörte. Normalerweise wäre er hineingegangen und hätte sich dazugesetzt, aber nicht jetzt. Im Moment brauchte er Zeit für sich, um zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken zu ordnen.
    Zum Glück war Darryl nicht in ihrem Zimmer. Er zog die Vorhänge vor das schmale Lüftungsfenster und schaltete die Schreibtischlampe mit einer ungewöhnlich hellen Glühbirne an, die er aus dem winzigen Foyer am Ende des Flures »ausgeliehen« hatte. Dann zog er seine Schuhe und die durchgeschwitzten Socken aus und grub die Füße in den Langflorteppich. Arbeit. Er musste sich eine Weile auf seine Arbeit konzentrieren, die er in letzter Zeit vernachlässigt hatte. Er nahm eine Flasche Scotch aus dem Regal im Schrank und goss sich drei Finger hoch ein. Dann begann er, die Bilder auf den Laptop zu laden, die er seit seiner Ankunft in Point Adélie gemacht hatte. Er hatte Schnappschüsse von den Weddell-Robben gemacht, die in den ersten Tagen auf dem Eis geworfen hatten, und Bilder von Vögeln, schneeweißen Sturmvögeln und verschiedenen Aasfressern, die regelmäßig die Basis
besuchten. Seine Finger schwebten einen Moment lang über der Tastatur, als er sich abermals fragte, was wohl aus Olli geworden war.
    Es gab Aufnahmen von der Tauchhütte und ein paar von Darryl, der mit seinem Trockenanzug und dem roten, nassen Haar aussah wie eine Mischung aus Zwerg und Weihnachtsmann. Auf einem Bild hielt er eine Harpunenbüchse wie einen Speer an die Schulter. Da waren eine ganze Menge Bilder von Danzig und den Hunden. Manche davon waren gestellt, andere hatte er spontan gemacht, während das Gespann trainiert wurde. Er entdeckte eine Aufnahme, auf der Kodiak Danzig die Eiskristalle aus dem Bart leckte. Michael wählte ein paar der besten Fotos aus und verschob sie in einen Extraordner. Anschließend lud er die nächste Serie Bilder herunter. Als er die erste Datei öffnete, starrte er Dornröschen direkt ins Gesicht.
    Oder Eleanor Ames, wie er inzwischen wusste.
    Sie hatte die Augen geöffnet und blickte durch eine dicke Eisschicht hindurch. Er vergrößerte das Bild, und der Ausdruck der Erleichterung in den grünen Augen wurde noch deutlicher. Es war, als würde sie ihn direkt ansehen, und es kam ihm vor, als würde er ihren Blick erwidern. Als blickte er über den Abgrund der Zeit und die Kluft, die zwischen Leben und Tod lag. Er nahm einen Schluck Scotch. War das wirklich so?
    Der Wind legte kräftig zu und schlug gegen die Wände des Gebäudes, so dass die Vorhänge sich bewegten. Das Fenster schien nicht fest genug geschlossen zu sein.
    Michael lehnte sich zurück, starrte das Foto an und fragte sich, was Eleanor jetzt wohl tat. Schlief sie? Oder war sie wach und verängstigt angesichts ihrer erneuten Gefangenschaft?
    Und dann glaubte er, etwas gehört zu haben. Es hatte wie ein menschlicher Schrei geklungen, der sich in das Heulen des Windes mischte. Er stand auf, schob den Vorhang zurück, beschirmte die Augen und spähte hinaus. Doch in dem wirbelnden Schnee
konnte er nichts erkennen. Dafür war er dankbar. Was hätte er tun sollen, wenn es Danzig gewesen wäre …
    Er drehte an der Kurbel, die das Fenster verschloss.
    Doch dann glaubte er, den Schrei erneut zu hören. Dieses Mal hätte er schwören können, dass es eine tiefe Stimme war, die unverständliche Klagelaute von sich gab. Doch selbst, nachdem er die Lampe ausgeschaltet hatte, seine Augen erneut abschirmte und noch einmal hinausspähte, konnte er nichts erkennen.
    Wow
, dachte er, als er die Vorhänge energisch zuzog,
der Scotch muss stärker sein, als ich gedacht hätte
.
    Er ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und nach einem letzten Blick auf Eleanors Bild klickte er ein paar Fotos an, die er von der verlassenen Walfangstation gemacht hatte. Der verrostete Bug der
Albatros
ragte auf den Strand, ausgeblichene Knochen lagen verstreut zwischen den Felsen, und Grabsteine neigten sich in aberwitzigen Winkeln auf dem Friedhof. Der Vorhang bewegte sich erneut, aber Michael wusste, dass es nicht am Fenster liegen konnte. Die Tür am Ende des Korridors musste geöffnet worden sein, dann ging jedes Mal ein kalter Luftzug durch den Flur bis in die Gemeinschaftswaschräume und die Sauna. Wahrscheinlich war es Darryl, und Michael überlegte, was er über die Entdeckung Eleanors sagen oder besser nicht sagen sollte, als er schleppende, schmatzende Schritte im Flur hörte. Gerade als er die Dateien auf dem Computer schloss, erstarb das

Weitere Kostenlose Bücher