Eisiges Blut
hatte keine Ahnung, was ihr als Nächstes passieren würde. Oder Sinclair, wo immer er steckte. Kundschaftete er immer noch die Gegend aus? Jagte er? Hatte ihn der Sturm zu weit entfernt von der Kirche überrascht, so dass er jetzt in fremder Umgebung festsaß?
Oder war er zurückgekommen, um festzustellen, dass der Riegel zurückgeschoben und die Kammer leer war? Er würde wissen, dass jemand sie bedrängt haben musste. Sie verspürte einen heftigen Schmerz, den Schmerz, den sie empfinden würde, wenn umgekehrt
sie
Grund hätte zu glauben, dass man ihr Sinclair genommen und Gott weiß wohin gebracht hatte. Seit jenem Tag, an dem man ihn vom Schlachtfeld zurückgebracht und sie seinen Namen auf der Liste der Neuzugänge gesehen hatte, waren sie auf eine Weise miteinander verbunden, die sie niemals einem anderen Menschen würde erklären können.
Wie sollte irgendjemand es je verstehen?
Sie hatte ihn in einem der großen Säle für die Fieberkranken gefunden, in denen schmutzige Musselinvorhänge von durchhängenden Stangen hingen. Da nur wenige Ärzte das Risiko einer Ansteckung eingehen wollten, konnte sie niemanden fragen, wo genau er untergebracht war. Männer, die am Verdursten waren oder entsetzliche Fieberträume hatten, flehten sie herzzerreißend um Wasser und Hilfe an. Doch Eleanor ignorierte sie, stolperte
durch die Krankensäle und suchte überall, bis sie auf einem Strohsack am Boden einen blonden Haarschopf erspähte.
»Sinclair!«, hatte sie gerufen und war an seine Seite geeilt.
Er hatte sie angesehen, ohne ein Wort zu sagen. Und dann hatte er gelächelt. Doch es war ein verträumtes Lächeln, das ihr sagte, dass er nicht wirklich glaubte, sie vor sich zu sehen. Es war das Lächeln eines Mannes, der bewusst einen Tagtraum genoss.
»Sinclair, ich bin’s«, sagte sie, sank neben seinem dünnen Lager auf die Knie und ergriff seine schlaffe Hand. »Ich bin hier, ganz bestimmt!«
Das Lächeln wurde zögerlicher, als würde die Berührung seinen zerbrechlichen Traum zerstören, anstatt ihn zu bestärken.
Sie presste seine Hand an ihre Wange. »Ich bin hier, und du lebst, und das ist alles, was zählt.«
Verärgert über die Störung zog er die Hand zurück.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie durchsuchte den Krankensaal, bis sie einen Krug mit abgestandenem Wasser entdeckte, dem einzigen Wasser, das es gab. Sie kehrte zu ihm zurück, um ihm Stirn und Gesicht zu säubern. In seinem Schnurrbart klebte Blut, auch das wischte sie fort.
Der Soldat, der auf dem Boden hinter ihr lag, den Überresten seiner Uniform nach ein Highlander, umklammerte den Saum ihres Kittels und flehte um einen Tropfen Wasser. Sie drehte sich um und träufelte etwas Wasser auf seine aufgesprungenen Lippen. Er war ein älterer Mann, über dreißig, mit abgebrochenen Zähnen und kreidebleichem Gesicht. Sie wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte.
»Danke, Missus«, murmelte er. »Aber passen Sie auf, und halten Sie sich von dem da fern.« Er meinte Sinclair. »Er ist böse.« Er wandte sein bleiches Gesicht ab, weil ihn plötzlich ein bellender Husten überkam.
Delirium, dachte sie, ehe sie sich wieder Sinclair zuwandte. Es
war, als hätte sich in diesen wenigen Sekunden sein Geist geklärt. Jetzt blickte er sie an und erkannte sie. »Mein Gott«, kam es über seine Lippen, »du bist es wirklich.«
Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten und beugte sich vor, um ihn zu umarmen. Durch das dünne Nachthemd, das man ihm gegeben hatte, spürte sie seine Haut und Knochen. Sie überlegte, wie rasch sie etwas Porridge aus der Küche besorgen oder ihm ein richtiges Bett beschaffen könnte.
Er war schwach und gebrechlich, aber er konnte ein paar Worte auf einmal sprechen, und Eleanor erriet den Rest. Sie wollte ihn nicht erschöpfen, außerdem musste sie ihren Pflichten nachkommen. Aber er schien allein durch ihre Gegenwart Kraft zu schöpfen. Sie scheute sich, ihn allein zu lassen, und sei es nur für wenige Stunden. Als sie schließlich gehen musste, nicht ohne ihm zu versprechen, bei der ersten Gelegenheit wiederzukommen, sah er ihr nach, bis sie hinter den Musselinvorhängen verschwand, die sich wie Leichentücher wölbten.
Sogar jetzt noch, als sie sich in dem makellosen Spiegel des Waschraums betrachtete, konnte sie sich genau an seinen Gesichtsausdruck erinnern und sah es so deutlich vor sich wie ihr eigenes. Sie drehte an den Wasserhähnen der Dusche, wie die Ärztin es ihr gezeigt hatte. Nachdem sie die
Weitere Kostenlose Bücher