Eisiges Blut
sich mit behandschuhten Händen an den Stangen festzuhalten. Zweimal hatten die Hunde einen weiten Bogen um neu entstandene Gletscherspalten gemacht. Sinclair bezweifelte, dass sie ihm selbst aufgefallen wären, doch die Tiere schienen sie zu spüren. Er würde sie mit einer großzügigen Portion Tran und Fleisch von der toten Robbe belohnen, die er auf dem Schlitten verstaut hatte.
Er war so weit nach Norden vorgedrungen, wie er es für klug und sicher hielt, und hatte nach Anzeichen von weiteren Ansiedlungen Ausschau gehalten. Doch er fürchtete, dass sie tatsächlich am Ende der Welt gelandet waren. Er entsann sich, dass die
Coventry
vor langer, langer Zeit, angetrieben von harten Winden, in südliche Richtung gesegelt war. Nur ein einsamer Albatros hatte sie begleitet und seine Kreise über der Rah gezogen. Nach allem, was er bislang über ihre gegenwärtige Umgebung herausgefunden hatte, waren Eleanor und er an einen Ort gelangt, der so abgelegen
und trostlos war, dass es nur der Südpol selbst sein konnte, dieses gefürchtetste Ziel von allen.
Doch die Robbe würde ihnen helfen. Er hatte Eleanors Schwäche bemerkt und wusste, dass der Inhalt der Flaschen alt und verdorben und längst nicht mehr so wirksam war wie einst. Angesichts seiner Herkunft war er überrascht, dass der Trank überhaupt noch eine Wirkung zeigte. Während ihrer Reise durch Europa hatte er sich darauf beschränkt, das Blut aus den Toten zu saugen, die er auf den Schlachtfeldern und in den Gebeinhäusern fand. Heute hatte er nach frischem Blut und frischem Fleisch gesucht, selbst wenn es nur von Tieren stammte. Zwischen den ausgeblichenen Skeletten und windzerklüfteten Felsen an der Küste war er fündig geworden. Im kalten, blendenden Sonnenlicht hatten sich Robben gesonnt, ausgestreckt zwischen Millionen zertrümmerter Knochen, wie die Sommergäste am Strand von Brighton. Die größeren Tiere, bei denen es sich ohne Zweifel um Bullen handelte, hatte er außer Acht gelassen und sich stattdessen eine Robbe mit glattem braunem Fell und langem schwarzem Schnurrbart ausgesucht, die er für ein Weibchen hielt. Sie lag ganz für sich unter dem riesigen Bogen eines Walknochens und zeigte keinerlei Angst, als er sich ihr näherte. Überhaupt reagierte sie kaum und sah nur träge zu, wie er seinen Degen aus der Scheide zog. Breitbeinig stand er über ihr. Mit hervortretenden, feuchten Augen blickte sie zu ihm auf, während er zu entscheiden versuchte, wo das Herz saß. Die Wunde sollte so klein und genau wie möglich sein, damit das Blut im Kadaver blieb anstatt im Boden zu versickern. Er berührte die Stelle, die er ausgewählt hatte, mit der Spitze seines Degens, und die Robbe blickte neugierig darauf. Dann stieß er zu, indem er seine ganze Kraft in die Bewegung legte. Geschmeidig drang die Klinge ein. Das Tier zuckte an beiden Enden, als der Degen sauber durch das Fleisch schnitt und schließlich auf den gefrorenen Boden darunter stieß. Er zog den Degen nicht heraus, sondern ließ ihn stecken, um die Blutung in
Grenzen zu halten. Binnen einer Minute hörte die Robbe auf zu zucken und lag still.
Die anderen Robben waren nicht beunruhigt darüber, was ihrem Artgenossen zugestoßen war, und sahen zu, wie er die Klinge im Schnee sauber wischte und seine Beute zum Schlitten zerrte. Das würde als Proviant für eine ganze Weile reichen, auch wenn seine und Eleanors Aussichten für die Zukunft so schrecklich waren wie eh und je.
Sinclair war kein Seemann, doch nach der Schlacht von Balaklawa war er mehr als zwei Jahre auf der Flucht gewesen und hatte die Zeichen des Wetters ebenso gut zu deuten gelernt wie jeder Matrose. Er spürte, dass die Temperatur, die schon unbarmherzig genug war, noch weiter fallen würde. Der Himmel am fernen Horizont wurde von Minute zu Minute dunkler und bedrohlicher. Unter normalen Umständen hatte Sinclair einen guten Orientierungssinn, und mehr als einmal hatte er seinen Kameraden von der Kavallerie die richtige Richtung gewiesen. Doch an diesem verwünschten Ort war es nahezu unmöglich, sich zu orientieren. Es gab keine Nacht, und somit auch keine Sterne, und es gab keinen Tag, jedenfalls nicht, wie man ihn im Allgemeinen kannte. Wie sollte er die Bewegung einer gleichbleibenden Sonne beurteilen oder Schatten verfolgen, wenn diese sich kaum veränderten? Als einzige Orientierung diente ihm ein weit entfernter dunkler Gebirgskamm im Inneren des Landes, den er gelegentlich erkennen konnte und der sich wie eine
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