Eisiges Blut
er nichts unternehmen. Was immer es war, es kam verstohlen näher und bewegte sich im Schutz des zähen Nebels. Er hatte den Eindruck, das Wesen bewege sich auf allen vieren, den Kopf schnüffelnd am Boden. War es ein wilder Hund? Ein Wolf? Er holte flach Luft und hielt den Atem an. Oder war es eine dieser unsichtbaren Kreaturen, die in tiefster Nacht die Lagerfeuer heimgesucht hatten? Die Türken hatten ein Wort für sie, Karakondjiolos. Blutsauger.
Es lungerte jetzt bei Ajax’ Kadaver herum, doch alles, was Sinclair ausmachen konnte, ohne den Kopf zu heben, war ein Paar kantige Schultern, die über dem bereits verwesenden Fleisch schwebten. Sein Degen war an seiner Seite eingeklemmt und steckte immer noch in der Scheide. Er wusste, dass er ihn niemals herausziehen und noch weniger erfolgreich handhaben konnte, solange er auf dem Boden lag. Er tastete nach seinem Holster, aber dieses war leer; die Pistole musste beim Sturz herausgefallen sein. Stattdessen streckte er die Hand nach Sergeant Hatchs Leichnam aus, tastete nach dem Leder seines Reitgürtels und daran entlang, bis er das Holster des Sergeants gefunden hatte. Gott sei Dank war die Pistole noch da. So leise er konnte, zog Sinclair sie heraus.
Die Kreatur gab ein leises, schnatterndes Geräusch von sich, irgendetwas Seltsames zwischen dem Schrei eines Aasgeiers und einer menschlichen Äußerung.
Sinclair spannte die Pistole und das Wesen hielt inne. Er erhaschte einen Blick auf den flachen Schädel mit glänzenden dunklen Augen, der sich über den Bodennebel hob.
Vorsichtig kroch die Kreatur über ein totes Pferd und hielt an, um Sergeant Hatch zu untersuchen.
Dann kam es näher, und Sinclair spürte, wie eine Hand – oder war es eine Pfote? – irgendetwas mit scharfen Krallen jedenfalls, sein Bein berührte. Sinclair lag ganz still, als sei er tot, und spürte,
wie ein gieriges Maul an dem Blut leckte, das seine Hosen bedeckte. Er wusste, dass er möglicherweise nur einen Schuss hatte, und er wollte sicher sein, dass der traf. Das Biest folgte der Spur des Blutes bis zu seiner Brust. Jetzt konnte er den nach totem Fisch stinkenden Atem riechen und die spitzen Ohren erkennen. Er ertrug es sogar, dass eine heiße Zunge den Stoff seiner Hose ableckte, doch als das Wesen seine Zähne plötzlich in sein eigenes Fleisch grub, von seinem Blut saugte und ein nasser Mund sich über die Wunde legte, zuckte er zusammen.
Der Kopf der Kreatur flog zurück, und zum ersten Mal konnte Sinclair ihr Gesicht erkennen, obwohl er es niemals hinlänglich hätte beschreiben können. Sein erster Gedanke war, dass es ein Mensch sei, mit diesem intelligenten Blick, dem geschwungenen Mund und der runden Stirn. Doch der Schädel war auf eigentümliche Art verlängert, und die lederne Haut spannte über einer hohlwangigen, fratzenhaften Maske.
Mit bebender Hand zielte er und feuerte die Pistole ab.
Das Ding kreischte auf und schlug entsetzt eine Hand gegen das zerfetzte Ohr. Empört blickte es auf Sinclair herab, krabbelte aber rückwärts. Mühsam richtete Sinclair sich auf. Die Kreatur wich immer noch zurück und bewegte sich dabei in geduckter Haltung, doch Sinclair hätte schwören können, dass es sich einen Pelzumhang um die Schultern geworfen hatte, genau wie ein Kavallerist es tun würde.
Was
war
das für ein Wesen?
Er drehte sich auf die Seite und versuchte zu rufen, doch seine Schreie waren kaum zu hören. Der Plünderer verschwand im Nebel und überließ ihn der Nacht. Sinclair hielt den Pistolengriff umklammert und feuerte ihm noch einmal hinterher.
Plötzlich hörte er Schritte, die sich vorsichtig aus einer anderen Richtung näherten. »Wer schießt da?«, ertönte eine Stimme mit Cockneyakzent.
Eine Laterne schwang nah über dem Boden.
»Sind Sie Engländer?«
Und dann fiel das gelbliche Licht der Laterne auf sein Gesicht, und er konnte, trotz seiner zerfetzten und blutigen Lippen, flüstern: »Lieutenant Copley. Vom 17 . Lancer-Regiment.«
16 . Dezember,
18 : 00 Uhr
Wenn er all das überlebt hatte, dachte Sinclair jetzt, den von vornherein zum Scheitern verurteilten Angriff der Leichten Brigade und die Nacht auf dem Schlachtfeld, konnte er dann nicht
alles
überleben? Besonders mit Eleanor an seiner Seite?
Er lenkte den Schlitten und verließ sich dabei auf den unfehlbaren Orientierungssinn der Hunde, den Weg zurück zur Walfangstation zu finden. Alles, was er tun musste, war, sich auf die Kufen zu kauern, das Gesicht in der Kapuze zu verbergen und
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