Eisiges Blut
recht«, sagte Darryl. »Wenn es darum geht, ihn zu fangen, dann haben wir den besten Köder, den man sich denken kann.«
45 . Kapitel 21 .Dezember, 23 : 00 Uhr
Eleanor kam sich vor wie eine Gefangene, die man in ihre Zelle zurückgebracht hatte. Dr.Barnes hatte ihr eine weitere blaue Pille sowie ein Glas Wasser dagelassen, doch sie wollte sie nicht nehmen. Sie wollte nicht mehr schlafen, und sie wollte sich auch nicht länger auf der Krankenstation verstecken. Vor allem, weil die Versuchung in der weißen Metallkiste zu groß war. Wie, versuchte sie sich zu erinnern, hatten sie den Schrank genannt? Einen Kühlschrank?
Sie hatte die Beutel darin gesehen, durchsichtig wie ein Stück Darm und randvoll mit Blut. Sie spürte, wie das Verlangen sie wieder überkam. Die Wände um sie herum schienen zu verblassen, und sie musste ihre Augen immer häufiger schließen und wieder öffnen, um alles wieder wie gewohnt zu sehen. Auch ihr Atem war langsamer und flacher geworden. Sie glaubte, dass Dr.Barnes diese Veränderung aufgefallen war, doch Eleanor konnte ihr kaum den Grund dafür und noch weniger das Gegenmittel nennen.
Jetzt war sie wieder allein, oder, wie Sinclair oft aus seinem Buch mit Gedichten rezitiert hatte: »Allein, allein und ganz allein, auf weiter, weiter See!«
Wo ist Sinclair jetzt? In der Kirche, geschützt vor dem Sturm? Oder irrt er durch Schnee und Eis und sucht nach mir?
Wie der Tiger, den sie im Londoner Zoo gesehen hatte, wanderte
sie im Raum auf und ab, vor und zurück. Schon damals hatte sie Mitleid für das arme Tier empfunden, das isoliert und eingesperrt leben musste. Mit aller Kraft bemühte sie sich, den Blick vom »Kühlschrank« fernzuhalten und ihre Gedanken von düsteren Pfaden. Aber wie sollte sie? Ihr früheres Leben war ihr ganz und gar entrissen, ihre Familie, ihre Freunde, selbst ihr Land. Ihr gegenwärtiges Leben war reduziert auf eine Krankenstation am Südpol … und auf ein gieriges Verlangen, an das sie nur mit Entsetzen denken konnte.
Nach jener schicksalhaften Nacht im Lazarett, in der Sinclair sie besucht hatte, hatte sie sich tatsächlich schnell wieder erholt. Am nächsten Tag war ihr Fieber nahezu verschwunden. Moira hatte frohlockt, und Miss Nightingale hatte ihr persönlich Getreidebrei und Tee gebracht und sich einen Stuhl an ihre Bettstatt gezogen.
»Wir haben Sie in den Krankensälen vermisst«, sagte Miss Nightingale. »Die Soldaten werden froh sein, Sie wiederzusehen.«
»Ich werde auch froh sein.«
»Ein Soldat, denke ich, wird besonders erfreut sein«, sagte Miss Nightingale, und Eleanor errötete.
»Ist das nicht der Mann, der eines Nachts in unser Hospital in London platzte«, fuhr sie fort, während sie einen Löffel von dem Brei hielt, »und verlangte, dass Sie seine Wunde nähen?«
»Ja, Mutter, es ist derselbe.«
Miss Nightingale nickte, und nachdem Eleanor den Brei gegessen hatte, fuhr sie fort: »Und seitdem hat sich eine gewisse Zuneigung zwischen Ihnen entwickelt?«
»Ja«, gab Eleanor zu.
»Als ich meine Krankenschwestern anwarb, war meine größte Angst, dass sie sich zu sehr zu bestimmten Soldaten, die sie pflegen, hingezogen fühlen könnten. Es würde ein schlechtes Licht auf die Schwester werfen, und was noch wichtiger ist, es würde
unsere gesamte Mission in Frage stellen. Sie wissen natürlich, dass wir viele Kritiker haben, sowohl hier als auch zu Hause?«
»Das weiß ich.«
»Engherzige Menschen, die glauben, dass Krankenschwestern nichts als Opportunistinnen und noch Schlimmeres seien.«
Miss Nightingale bot ihr einen weiteren Löffel von dem Brei an, und obwohl Eleanor ihren Appetit noch nicht wiedererlangt hatte, dachte sie nicht im Traum daran, das Essen abzulehnen. »Aus diesem Grund muss ich Sie bitten, nichts zu tun, und ich kann das gar nicht genug betonen, was Ihren oder unseren Dienst hier in Misskredit bringen könnte.«
Eleanor signalisierte ihre Zustimmung mit einem stummen Kopfnicken.
»Gut«, sagte Miss Nightingale. »Ich denke, wir verstehen einander.« Sie stand auf und setzte die Schale mit dem Getreidebrei vorsichtig auf dem hölzernen Stuhl ab. »Ich vertraue Ihrem Urteil und nehme Sie beim Wort.« Mit raschelndem Rock ging sie zur Tür, wo Moira wartete. »Leider ist es in der Nähe der Woronzoff-Straße zu weiterem Blutvergießen gekommen. Ich muss Sie beide bitten, sich morgen bei Tagesanbruch zum Dienst zu melden.«
Als sie gegangen war, ließ Eleanor den Kopf zurück aufs Kissen sinken. So blieb sie
Weitere Kostenlose Bücher