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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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vieles, das sie lernen müsste. Symphonieorchester, die aus einem kleinen schwarzen Kasten spielten. Lichter, die mit dem Schnipsen eines Schalters angingen und regelmäßig brannten. Frauen, noch dazu afrikanische, die als Ärzte arbeiteten!
    Dann erinnerte sie sich daran, wie entsetzt ihre Mutter angesichts der Vorstellung gewesen war, Eleanor könnte nach London reisen, eine unverheiratete, junge Frau, ohne Begleitung, um Krankenschwester zu werden. Vielleicht war alles, was die Menschen damals schockiert hatte, inzwischen ganz alltäglich. Vielleicht hatte der entsetzliche Tribut, den der Krimkrieg gefordert hatte, das Gewissen der Menschheit aufgerüttelt und solch einem sinnlosen Abschlachten ein Ende gesetzt. Möglicherweise war dies eine aufgeklärtere Welt. Eine Welt, in der selbst die gewöhnlichsten Dinge lieblich dufteten, und in der Nationen ihre Konflikte mit erhobenen Stimmen, aber niemals mit erhobenen Schwertern lösten.
    Ausnahmsweise gestattete sie sich, einen Hoffnungsschimmer zu sehen.
    Es hatte sich so gut und so
normal
angefühlt, wieder einmal Klavier zu spielen. Ihre Finger hatten die Berührung der Tasten genossen. Es hatte Erinnerungen an den Unterricht bei der Frau des Pfarrers in ihr wachgerufen. Sie hatte oft bei geöffneten Fenstern im vorderen Salon gespielt, und der Cockerspaniel der Familie hatte auf dem weiten grünen Rasen Kaninchen gejagt. MrsMusgrove hatte ein Abonnement bei einem Musikgeschäft in Sheffield und bekam zweimal im Jahr eine Auswahl populärer Kompositionen zugeschickt. Auf diese Weise hatte Eleanor viele alte, traditionelle Balladen und Lieder lieben gelernt, darunter auch
An den schönen Ufern des Tweed
und
Barbara Allen
.
    Michael schien das Lied ebenfalls gefallen zu haben. Er hatte
ein empfindsames Gesicht, aber in seinen Zügen lag auch etwas Gequältes. Er hatte seine eigene Tragödie erlebt, auf irgendeine Art, und vielleicht war das der Grund, warum er diesen einsamen Ort aufgesucht hatte. Wer würde sich solch ein Ziel wählen, wenn es nicht auf gewisse Weise für ihn bestimmt war? Sie fragte sich, was ihm widerfahren sein mochte … oder vor welcher Erinnerung er floh. Sie konnte sich nicht erinnern, einen Ring an seinem Finger gesehen zu haben, und in ihrer Gegenwart hatte er nicht von einer Ehefrau gesprochen. Obwohl sie nicht hätte sagen können, warum, wirkte er auf sie wie ein Junggeselle.
    Ach, wie sehnte sie sich nach Sonnenlicht, nach
echtem
Sonnenlicht, nicht nur dieser leeren Nachahmung. Sonnenlicht, so warm und golden wie Sirup, der sich über sie ergoss. Eine Ewigkeit hatte sie im Schatten gelebt, während sie mit Sinclair von einer Stadt zur nächsten geflohen war. Sie fürchteten, dass ihr Geheimnis entdeckt würde, wenn sie zu lange an einem Ort blieben. Ihr Weg hatte sie von Skutari durch die Karpaten und anschließend nach Italien geführt. Dort hatte Eleanor den Kopf aus dem Wagenfenster gesteckt, um jeden Strahl der warmen mediterranen Sonne einzufangen. Oft hatte sie den Vorschlag gemacht, irgendwo anzuhalten und zu bleiben, doch sobald Sinclair das Gefühl hatte, einer der Einwohner bekunde zu großes Interesse an dem mysteriösen jungen Paar aus England, bestand er darauf, die Zelte wieder abzubrechen. Er lebte in ständiger Furcht, dass seine Desertion entdeckt würde. Immer wieder sprach er davon, dass sein Vater hoffentlich nur die Nachricht erhalten habe, dass er auf dem Schlachtfeld von Balaklawa vermisst sei.
    Was Eleanor anging, so wusste sie nicht, was sie mehr fürchtete; die Vorstellung, ihre Lieben niemals wiederzusehen, oder sie zu sehen und zu wissen, dass sie ihre unsägliche Veränderung spüren könnten.
    In Marseille hatte Sinclair einen alten Freund der Familie entdeckt, der am Kai entlangschlenderte. Um einer Entdeckung zu
entgehen, hatte er sie in einen kleinen Laden gezerrt. Der Ladeninhaber fragte ihn, was er ihnen zeigen dürfe, und Sinclair antwortete in für Eleanors Ohren perfektem Französisch, dass er sich für den ersten Gegenstand interessiere, auf den sein Blick zufällig fiel – eine Elfenbeinbrosche mit Goldrand, die in einer Auslage ausgestellt war.
    Der Ladenbesitzer hielt die Brosche vor dem Fenster ins Licht, und Eleanor bewunderte die feine Arbeit. Es war die Kamee einer klassischen Figur, Venus, die sich aus den Wellen erhob.
    »Wir hätten uns nichts Besseres aussuchen können«, erklärte Sinclair und heftete das Kleinod an ihre Brust, »als die Göttin der Liebe.«
    »Sie ist

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