Eisiges Blut
sein konnte.
»Außerdem stellen in dem Krankenhaus, in dem ich in Chicago gearbeitet habe, gerade sechs verschiedene Behörden Ermittlungen an. Ich fand, das sei ein guter Zeitpunkt, um sich zu verabschieden.«
»Aber gleich in die Antarktis?« Im Geiste machte Michael sich bereits Notizen und dachte, dass sie eine großartige Protagonistin für den
Eco Travel
-Artikel abgeben würde.
»Wissen Sie, was die NSF den Leuten zahlt, die verrückt genug sind, eine Sechsmonatsschicht zu übernehmen?« Eine plötzliche
Böe wehte ihre Zöpfe, von denen einige mit blondierten Strähnchen durchzogen waren, nach hinten über ihre Schultern. »Ich sage Ihnen, das übersteigt bei weitem das Gehalt für einen Job in der Notaufnahme. Ich habe von einem Freund von der Sache erfahren, der selbst vor einem Jahr hier unten war.«
»Und er lebt immer noch, um solche Märchen erzählen zu können?«
»Er sagt, es hätte sein Leben verändert.«
»Wollen Sie das auch?«, sagte Michael. »Ihr Leben ändern?«
Sie zog sich ein wenig zurück und machte eine Pause. »Nein, ich bin mit meinem Leben ganz zufrieden.« Sie warf ihm einen leicht misstrauischen Blick zu. »Sie sind aber ziemlich neugierig.«
»Sorry«, sagte er, »ist eine schlechte Angewohnheit von mir. Das liegt am Job.«
»Sie sind doch Fotograf.«
»Aber ich schreibe auch.«
»Ja dann … Zumindest weiß ich jetzt, woran ich bin. Aber lassen Sie es uns langsam angehen. Wir haben noch jede Menge Zeit, um uns besser kennenzulernen.«
»Sie haben recht«, sagte er und dachte, dass seine Interviewtechnik vielleicht etwas eingerostet war. »Warum fangen wir nicht noch einmal von vorne an und reden übers Fotografieren?«
Er gab ihr rasch ein paar Tipps, wie man am besten Fotos auf dem Meer schoss, besonders in dem ungewöhnlichen Licht weiter im Süden. Anschließend kehrte er in seine Kabine zurück.
Lass dir Zeit
, ermahnte er sich,
warte, bis deine Gesprächspartner sich dir von allein öffnen
. An der Tür zur Kabine fiel ihm ein, dass er zum Dinner angemessene Kleidung tragen sollte. Das bedeutete, dass er sein am wenigsten zerknittertes Flanellhemd heraussuchen, es unter die Matratze legen und sich eine Weile darauf ausruhen musste.
6 . Kapitel 20 .Juni 1854 , 18 : 00 Uhr
Für Sinclair Archibald Copley, Leutnant des 17 . Lancer-Regiments, hätte es ein gänzlich typischer Abend werden können, wenn er nicht auf diese unvorhergesehene Weise geendet hätte.
Es begann gegen achtzehn Uhr mit diversen Runden Ekarté in der Kaserne, bei denen Sinclair ganze zwanzig Pfund verlor. Sein Vater, der vierte Earl of Hawton, würde über die erneute Bitte um Geld nicht gerade erfreut sein. Nachdem er Sinclairs Offizierspatent hatte bezahlen müssen, hatte er geschworen, ihn nicht weiter zu unterstützen. Doch um Schaden vom guten Namen der Familie abzuwenden, hatte er bereits in aller Stille eine offene Rechnung von Sinclairs Schneider beglichen, dann eine weitere von dem orientalischen Besitzer eines zweifelhaften Etablissements in Bluegate-Fields
,
wo Sinclair einem, wie der Earl es nannte, »verderbten Zeitvertreib« nachgegangen war. Die erneute kleine Bitte konnte er seinem Sohn, der jeden Tag entsendet werden konnte, um auf der Krim gegen die Russen zu kämpfen, unmöglich verweigern.
»Was halten Sie von einem Dinner in meinem Club?«, fragte Rutherford und strich seinen Gewinn ein. »Natürlich als meine Gäste.«
»Das ist ja wohl das Mindeste«, sagte Le Maitre, der andere Verlierer dieses Abends. Wegen seines Nachnamens nannten
seine Freunde ihn Frenchie. »Immerhin ist es mein Geld, das Sie dort auszugeben gedenken.«
»Nun«, sagte Rutherford und strich über seine extravaganten Koteletten, »lassen Sie uns nicht darüber streiten. Was meinen Sie, Copley?«
Sinclair jedoch war nicht sonderlich darauf erpicht, jetzt ins Athenaeum zu gehen. Er schuldete diversen Mitgliedern des Clubs kleinere Geldsummen. »Ich würde dem Turtle den Vorzug geben.«
»Also auf ins Turtle«, sagte Rutherford und erhob sich schwerfällig aus seinem Sessel. Sie alle hatten während des Spiels eine ganze Menge getrunken. »Und später vielleicht noch einen Besuch bei Mme Eugenie?« Er zwinkerte Sinclair und Le Maitre auffällig zu, während er ihre Pfundnoten in die Tasche seines pelzgefütterten Umhangs steckte. Er war großartiger Laune, und das zu Recht.
Schwankend traten die drei auf die Oxford Street hinaus, so dass mehrere Zivilisten ihnen hastig auswichen, und platschten
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