Eisiges Blut
hatte gelernt, dass das Gedächtnis einem häufig einen Streich spielte.
Der Hafen war in der Ferne verschwunden, und die Küste war mit einer hellgrünen Schicht aus Moosen und Flechten bedeckt. Einst hatten die Ureinwohner Patagoniens dieses vom Wind zerklüftete Land besiedelt, und als Ferdinand Magellan 1520 nach einer sicheren Route in Richtung Westen suchte, hatte er überall auf den kargen Hügeln und am Ufer ihre brennenden Lagerfeuer gesehen. Folglich hatte er diesen Landstrich
Tierra del Fuego
, »Land des Feuers«, genannt. Doch jetzt war kein wärmendes Feuer mehr zu sehen, und gewiss gab es hier auch keine Spuren der Ureinwohner mehr. Krankheiten und die Inbesitznahme ihrer Heimat durch die europäischen Entdecker hatten die einheimische Bevölkerung dezimiert. Die einzigen Anzeichen von Leben, die Michael an Land ausmachen konnte, waren Scharen von schneeweißen Sturmvögeln, die zwischen den nackten Felsen flogen, ihre Nester bewachten und die Jungen fütterten. Als seine Finger zu kalt geworden waren, um die Kamera zu bedienen, stopfte er den Fotoapparat in die Tasche seines Parkas, machte den Reißverschluss zu und lehnte sich über die Reling.
Das Wasser unter ihm war von einem harten dunklen Blau und brach sich in regelmäßigen Kräuselbewegungen an den Schiffswänden. Seit Gillespie ihn gebeten hatte, den Auftrag zu
übernehmen, hatte er so viel wie möglich über die Antarktis gelesen. Er wusste, dass sie nicht lange im eisfreien Gewässer bleiben würden. Vom Beagle-Kanal aus würden sie in die Drakestraße einbiegen und auf Kap Hoorn zusteuern. Dort würde die See rauer werden, rauer als überall sonst auf der Welt. Selbst jetzt, wo auf der Südhalbkugel Sommer herrschte, waren Eisberge eine ständige Bedrohung. Eigentlich freute er sich darauf, sie zu sehen. Gletscher und Eisberge zu fotografieren und dabei alle Farbschattierungen vom blendenden Weiß bis zu den dunklen Lavendeltönen zu erfassen war eine besondere künstlerische und technische Herausforderung. Und Michael liebte Herausforderungen.
Er hatte schon eine ganze Weile so gestanden, ehe er die Mitreisende bemerkte, die ebenfalls an der Reling lehnte. Es handelte sich um eine Schwarze mit geflochtenen Haaren, die in einen langen grünen Daunenmantel eingemummt war. Sie stand vielleicht fünf Meter entfernt und nestelte an ihrer eigenen Kamera herum. Sie richtete den Apparat auf das Wasser, in dem gerade ein paar Seelöwen aufgetaucht waren, deren schwarze Köpfe wie Bowlingkugeln glänzten. Michael rief: »Gar nicht so einfach, wenn das Schiff sich ständig bewegt, was?«
Sie schaute zu ihm herüber. Sie hatte ein breites Gesicht mit hohen Wangenknochen und geschwungene Augenbrauen. »Es ist niemals einfach«, sagte sie. »Ich weiß gar nicht, warum ich es überhaupt versuche.«
Mit einer Hand an der Reling ging Michael zu ihr hinüber. Obwohl die See ziemlich ruhig war, rollte das Schiff auf den Wogen, und man geriet leicht aus dem Gleichgewicht.
»Sie müssen der Fotograf sein, auf den wir gewartet haben«, sagte sie.
»Das bin ich.« Er begann sich wie der Problemschüler in der Klasse zu fühlen. »Und Sie müssen die Ärztin sein, die zu früh gekommen ist.«
»Na ja, wenn man aus dem Mittelwesten kommt, muss man die Verbindung nehmen, die man kriegen kann.«
Sie stellten sich einander vor und Michael warf einen kurzen Blick auf ihre Kamera. »Sie benutzen ja noch Filme«, sagte er.
»Ich besitze diesen Apparat seit etwa zehn Jahren, und ich habe ihn zweimal benutzt. Was stimmt denn nicht mit Filmen?«
»Im Moment ist es noch in Ordnung, aber wenn wir erst richtiges Polarwetter haben, können Sie leicht Probleme bekommen. Filme gehen bei extremer Kälte ziemlich schnell kaputt.«
Sie sah die Kamera in ihrer Hand an, als hätte diese sie im Stich gelassen. »Ich habe sie nur mitgenommen, weil meine Mom und meine Schwester meinten, ich solle unbedingt Bilder machen.« Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Vielleicht können Sie mir ein paar von Ihren borgen. Sie würden es gar nicht merken.«
»Bedienen Sie sich!«
Die Seelöwen grunzten, dann verschwanden ihre Köpfe wieder unter der Wasseroberfläche.
»Arbeiten Sie für die National Science Foundation?«, fragte Michael.
»Jetzt ja«, sagte sie. »Ich habe einen Haufen Schulden von meinem Medizinstudium und hoffe, dass die Foundation mir beim Abstottern hilft.«
Michael schätzte, dass sie noch nicht länger als fünf oder sechs Jahre mit ihrer Ausbildung fertig
Weitere Kostenlose Bücher