Eisiges Blut
Seiten.
»Eleanor«, sagte er und berührte ihr Gesicht mit den Fingerspitzen. »Eleanor, bitte wach auf!«
Er beugte seinen Kopf tief genug, um ihren Atem an seiner
Wange zu spüren. Er war kalt, nicht warm. Auch ihre Haut war kalt.
»Eleanor«, wiederholte er, und dieses Mal meinte er, ihre Lider flattern zu sehen. »Eleanor, wach auf! Ich bin’s, Michael.«
Ein beunruhigter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als nähme sie es ihm übel, gestört zu werden.
»Bitte … «, sagte er und legte seine Hand auf ihre. »Bitte.« Er konnte nicht länger widerstehen und beugte sich vor, um sie zu küssen. Doch dann dachte er an Darryls Warnung und streifte nur ihre Lider mit den Lippen, zuerst eins, dann das andere. Er hätte sein Dornröschen lieber auf andere Weise wachgeküsst, aber das war genug.
Sie schlug die Augen auf, starrte direkt nach oben an die Decke des Vans und wandte den Blick dann zu Michael. Einen Moment lang fürchtete er, sie würde ihn nicht wiedererkennen.
»Ich hatte solche Angst«, sagte sie, »dass ich, wenn ich die Augen aufmache, wieder im Eis bin.«
»Das wird nie wieder geschehen«, sagte er.
Sie hob seine Hand und schmiegte ihre Wange in die warme Mulde.
Maria Ramirez ließ ihn schwören, bei allem, was ihm heilig war, dass er niemals einem Menschen erzählen würde, auf welchem Weg diese seltsame Frau illegal in die Vereinigten Staaten eingereist war. Im Gegenzug nahm Michael ihr das Versprechen ab, dass sie niemals enthüllen würde, wo sich die sterblichen Überreste ihres Mannes tatsächlich befanden. Anschließend fuhren sie durch die drückend heiße Nacht, und Maria ließ sie an einem kleinen Hotel in der Collins Avenue heraus, einen Block vom South Beach entfernt.
»Wenn wir forensische Experten von außerhalb unterbringen müssen«, erklärte sie, »quartieren wir sie meistens hier ein. Bisher hat sich noch nie jemand beschwert.«
Michael brachte Eleanor auf ihr Zimmer, schaltete alle Lampen an und ließ Badewasser für sie einlaufen. In dem Moment, in dem sich die Badezimmertür hinter ihr schloss, meinte er ein leises Schluchzen zu hören. Er war hin- und hergerissen. Sollte er anklopfen und versuchen, sie zu trösten? Oder sollte sie ihren Gefühlen einfach freien Lauf lassen? Wie konnte irgendjemand ertragen, was sie in den letzten zwei Tagen und den vielen Jahren, die ihnen vorausgegangen waren, ertragen hatte, ohne irgendwann zusammenzubrechen? Und was könnte er schon sagen, das ihr auch nur im Geringsten helfen würde?
Stattdessen ging er wieder nach unten und überredete die ältere Frau hinter der Rezeption, die kleine Boutique für ihn zu öffnen, damit er ein Sommerkleid kaufen konnte. Er wählte das zurückhaltendste aus, das er fand, aus hauchdünner gelber Baumwolle mit kurzen Ärmeln, und ein Paar Sandalen. Die Frau, die Eleanor angesehen hatte, als trüge sie ein Halloweenkostüm, verstand und legte noch ein paar andere Stücke auf den Stapel. »Liebestöter passen schlecht zu dem Kleid«, sagte sie lakonisch.
Als er zurück ins Zimmer kam, pochte er an die Badezimmertür, dann öffnete er sie einen Spalt breit und warf die Tüte mit dem neuen Kleid hinein. Eine Dampfwolke wehte ihm entgegen.
»Ich dachte, du möchtest vielleicht etwas zum Anziehen haben, das mehr zum Klima hier passt«, sagte er, ehe er die Tür wieder zuzog. »Wenn du Hunger hast, kann ich auch etwas zu essen besorgen.«
»Nein danke«, sagte sie, und ihre Stimme klang fast, als käme sie aus einem Grab, »im Moment nicht.«
Er ging zum Fenster und zog den Vorhang mit Blumenmuster zurück. In den Nachbargebäuden brannten immer noch ein paar Lichter. Ein Laster von der Straßenreinigung rumpelte vorbei. Wie sollte er ihr beibringen, was sie noch wissen musste? Dass es nicht nur das Eis war, das ihr gefährlich werden konnte, sondern auch menschlicher Kontakt?
Intimer
menschlicher Kontakt.
Wie sollte er ihr sagen, dass sie, auch wenn ihr Verlangen verschwunden war, immer noch ansteckend war? Dass sie möglicherweise eine Bedrohung für jeden darstellte, den sie umarmen wollte?
Und wie sollte er selbst damit umgehen?
Sobald das Rumpeln des Reinigungsfahrzeugs verklungen war, ging er zurück zur Badezimmertür und verbrachte die nächste halbe Stunde damit, Eleanors erschüttertes Zartgefühl zu beschwichtigen. Sie war so entsetzt darüber, wie kurz und durchscheinend das Kleid war, dass sie nicht herauskam, bevor er ihr wiederholt geschworen hatte, dass das der letzten Mode
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