Eisiges Blut
unten. Im Eis bildete sich ein gezackter Riss, dann noch einer, der sich in die entgegengesetzte Richtung ausdehnte. Der Eisbrecher schob sich vorwärts und übte weiterhin Druck auf das Eis aus, bis es plötzlich zu splittern und zu knacken begann. Mächtige Eisschollen türmten sich zu beiden Seiten des Bugs auf und ragten fast so hoch wie das Deck, auf dem Michael und Darryl standen. Instinktiv machten sie einen Schritt von der Reling zurück, nur um gleich darauf wieder danach zu greifen, damit sie nicht bis zum Achterdeck rutschten. Als die Eisschollen sich langsam wieder senkten, blickte Michael über die Reling nach unten und sah die Stücke an den Seiten nach unten gleiten, ehe sie auf ihrem Weg zu den drei gigantischen Schiffsschrauben unterm Schiff verschwanden. Jeder Propeller hatte einen Durchmesser von fast fünf Metern und würde die Eisbrocken zu einer handlichen Größe zerkleinern und in das Kielwasser des Schiffes entlassen.
Am meisten jedoch staunte Michael über die Unterseite des Eises. Von oben mochte es weiß und unberührt aussehen, doch nachdem es zerbrochen und umgestülpt worden war, bot es einen gänzlich anderen Anblick. Die Unterseite des Eises war mit einer blassgelben, widerlichen Schicht überzogen, die Michael an frischen Schnee erinnerte, in den ein Hund gepinkelt hatte.
»Das sind Algen«, erklärte Darryl, der seine Gedanken erraten hatte. »Diese Verfärbungen an der Unterseite.« Er musste schreien, um sich trotz des knirschenden Eises und des immer stärker werdenden Windes verständlich zu machen. »Eisberge bestehen nicht aus solidem Eis. Sie sind wabenförmig mit Kanälen aus
Salzwasser durchzogen, und diese Kanäle sind von Algen, Kieselalgen und Bakterien besiedelt.«
»Sie leben also unter dem Eis?«, rief Michael.
»Nein, sie leben
in
ihm«, schrie Darryl zurück und sah irgendwie aus, als sei er stolz auf ihre Genialität. Das Schiff machte einen plötzlichen Satz nach vorn und sackte anschließend nach unten. Selbst in dem merkwürdigen Licht konnte Michael erkennen, dass Darryl etwas grün um die Nase wurde.
Nachdem Darryl sich hastig verabschiedet hatte, um nach unten zu gehen, war Michael es bald leid, ständig Halt suchen zu müssen, und er ging hinunter in die Offiziersmesse, in der es abends für gewöhnlich hoch herging. Man spielte Karten, und im Fernseher liefen DVDs mit einem Programm, das von Bruce Lee und Jackie Chan bis zu professionellem Wrestling und Rockkonzerten reichte. Doch jetzt war hier nichts los, und Michael nahm an, dass die Crew ihren diversen Pflichten nachkam. Er steckte den Kopf in den Fitnessraum, bei dem es sich um eine enge Kammer unterm Bug handelte, die nur durch die Schotts vom eisigen Ozean getrennt war. Unteroffizier Kazinski lief in Shorts und engem T-Shirt mit der Aufschrift: »Küss mich, ich bin bei der Küstenwache!« auf dem Laufband.
»Wie schaffen Sie es bloß, auf dem Ding zu bleiben?«, fragte Michael, als das Schiff wieder einmal rollte.
»Es gibt keinen besseren Zeitpunkt!«, sagte Kazinski und umklammerte den Handlauf, um sein brutales Tempo zu halten. »Es ist, als würden Sie ein halbwildes Pferd reiten.«
Ein kleiner Monitor über seinem Kopf zeigte Live-Aufnahmen vom Bug. Zwischen den Wassertropfen und der Gischt, die das Schutzglas vor der Linse bedeckten, konnte Michael ein schlecht aufgelöstes Schwarzweißbild der schweren See und der darin tanzenden Eisschollen erkennen.
»Es wird rauer da draußen«, sagte er.
Kazinski warf einen Blick auf den Monitor, ohne im Tempo
nachzulassen. »Es wird noch um einiges schlimmer, ehe der Sturm vorbei ist. Darauf können Sie Gift nehmen.«
Michael war froh, dass Darryl das nicht hörte. Er selbst jedoch freute sich. Durch das tödlichste Gewässer des Planeten zu fahren, ohne einen Sturm zu erleben, wäre wie ein Parisbesuch ohne Eiffelturm.
Auf dem Rückweg zur Kabine streckte er die Arme aus, um sich an den Korridorwänden abzustützen. Darryl lag nicht in seiner Koje, aber die Tür zur Toilette war geschlossen, und Michael konnte hören, dass er gerade das Abendessen wieder von sich gab.
Michael ließ sich auf seine Pritsche fallen und drehte sich auf den Rücken.
Bitte schnallen Sie sich an
, dachte er,
es wird eine turbulente Nacht werden
. Kristin hatte diese Zeile aus einem alten Lied von Bette Davis oft zitiert, wenn sie irgendwo in einer heiklen Lage steckten und die Sonne unterging. Was hätte er dafür gegeben, wenn sie jetzt bei ihm sein könnte und
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