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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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doch dann verlor er beinahe die Balance und musste sich darauf konzentrieren, wohin er seine Füße setzte. Was zum Teufel war das denn? Es gab keine Spur von der Forschungsstation, und überall im Eis entdeckte er plötzlich Löcher von etwa einem Meter Durchmesser. Er blieb stehen und stellte fest, dass da etwas auf dem Eis lag, etwas Rotes, Breiiges, Nasses. Der Mann im orangeroten Parka schrie erneut, und jetzt konnte Michael ihn endlich verstehen.
    »Die Robben werfen hier! Genau jetzt! Passt auf, wo ihr hintretet!«
    Charlotte und Darryl, Arm in Arm, blieben wie versteinert stehen.
    »Löcher im Eis«, rief der Mann und deutete auf verschiedene Stellen um sie herum. »Sie haben Atemlöcher ins Eis gefressen!«
    Ein paar Meter entfernt, auf dem Eis fast nicht zu erkennen, entdeckte Michael eine junge Robbe. Und dann noch eine. Weiß, aber blutverschmiert, mit schwarzen offenen Augen. Ein Muttertier lag ein Stück weiter weg, wie eine graue Tonne.
    Noch während er zusah, steckte eine weiterere Robbe, die größer, dunkler und voll ausgewachsen war, ihre Schnauze in eines der Löcher und schaffte es irgendwie, sich hindurchzuquetschen.
    »Geht weiter!«, rief der Mann im orangeroten Parka. »Runter vom Eis!«
    Ein Typ von der Station, dessen Schnauzbart gefroren war, führte Charlotte und Darryl. Michael ging langsam in dieselbe Richtung, doch manchmal konnte er im Nebel kaum seine eigenen Füße sehen. Und das Eis, das schon unter besten Bedingungen schlüpfrig war, war jetzt noch schwerer zu überqueren, nass vom Blut und übersät mit Nachgeburten. Als er endlich Schotter und Flechten unter den Füßen spürte, stieß Michael einen Seufzer der Erleichterung aus. Eine Windböe zerriss den Nebel, und auf einer kleinen Anhöhe, nicht mehr als fünfzig Meter entfernt, sah er eine Handvoll schlammgrauer Fertighäuser, ein paar Meter über dem Permafrostboden, aneinandergekauert wie der hässlichste Campus der Welt. Ein eisbedeckter Fahnenmast, an dem das Sternenbanner im eisigen Wind flatterte, stand in der Mitte des Platzes.
    Der Typ im orangeroten Parka trat hinter Michael und sagte: »Wir nennen es die Sonnenterrasse der Antarktis.«
    Michael stampfte mit den kalten, blutverschmierten Stiefeln auf.
    »Aber ich muss euch warnen«, fuhr der Mann mit breitem Bostoner Akzent fort, »es ist nicht immer so schön.«

Zweiter Teil
    Point Adélie
    Ein guter Südwind tut sich auf;
Hoch folgt uns durch die Luft
Der Vogel treu und schwebt herbei,
Wenn der Matrose ruft.
     
    Auf Tau und Mast, da hält er Rast
Der wolk’gen Nächte neun,
Und alle Nacht durch Nebel lacht
Des Mondes weißer Schein. –
     
    Vor bösen Geistern schütz dich Gott,
Du alter Schiffsgenoss!
Was stierst du? – mit der Armbrust mein
Schoss ich den Albatros!
    Der alte Matrose

Samuel Taylor Coleridge, 1798
Deutsch von Ferdinand Freiligrath

10 . Kapitel 2 . bis 5 .Dezember
    Die ersten paar Tage am Point Adélie waren nur schwer zu unterscheiden. Nicht nur, weil so viel geschah, sondern weil einem jedes Zeitgefühl verlorenging. Die Sonne schien die ganze Zeit, so dass die Strahlen selbst nachts durch die Jalousien fielen, und die einzige Möglichkeit, die Uhrzeit herauszufinden, war ein Blick auf die Uhr. Wenn man dann immer noch verwirrt war, musste man eben jemanden fragen, ob es jetzt halb zwölf abends oder mittags war. Dann die Frage, welcher Wochentag gerade war. Man konnte nicht einen schnellen Blick auf die Morgenzeitung oder das Fernsehprogramm vom Abend werfen. All die gewohnten Markierungen, die den Alltag maßen und einteilten – wann stehe ich auf, wann gehe ich ins Bett, wann gehe ich zum Training in den Fitnessclub oder zum Yoga-Kurs, wann habe ich Feierabend, wann komme ich nach Hause –, waren nutzlos. Es war sogar egal, ob es Wochenende war oder nicht, denn man konnte sich hier ohnehin nicht verabreden, um ins Kino zu gehen, oder spontan bei jemandem übernachten oder mit den Kindern auf den Bolzplatz gehen. All das spielte keine Rolle. In Point Adélie war man in einer Zeit und an einem Ort, wo all das nicht zählte. In der Antarktis war alles in einem frei schwebenden Zustand, und entweder lernte man, sich eine eigene Ordnung zu geben, egal welche, oder man wurde langsam verrückt.
    »Wir nennen es das Große Auge«, erfuhr Michael während
ihrer ersten gemeinsamen Mahlzeit. (Die Ähnlichkeit mit einem Campus war auf einige Bezeichnungen der Station übertragen worden.) Murphy O'Connor, der Mann mit dem orangeroten Parka und

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