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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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sahen wieder aus wie furchteinflößende Narben, wie schwarze Nähte auf einem leichenblassen Gesicht.
    Es knackte im Knopfhörer, dann ertönte die Stimme von Unteroffizier Diaz, der sich kurz vorstellte und seinen Passagieren mitteilte, dass die Flugdauer etwa eine Stunde betragen würde. »Ich hoffe, dass es ein ruhiger Flug wird«, sagte er, »aber inzwischen wissen Sie ja Bescheid, wie es da unten aussieht.«
    Michael konnte sich nicht verkneifen, Darryl einen Blick zuzuwerfen, der vermutlich für den Rest seines Lebens von Turbulenzen genug hatte, aber der Meeresbiologe hatte sein Intercom
ausgeschaltet und schlief selig. Sein Mund stand offen, und sein Kopf neigte sich Charlottes breiter Schulter zu. Charlotte hatte eine Sonnenbrille mit großen Gläsern aufgesetzt und schaute nachdenklich aufs Meer hinunter.
    Michael konnte sich ungefähr vorstellen, woran sie dachte. Wenn man über die unermessliche, karge Wüste der antarktischen Wildnis flog, war es schwer, nicht über bestimmte Dinge nachzudenken. Über die Bedeutungslosigkeit des eigenen winzigen Lebens zum Beispiel. Oder über die Möglichkeit, dass jederzeit durch ein kleines Missgeschick eine Reihe von Ereignissen ausgelöst werden konnte, die zum Tod oder zur Katastrophe führten. Obwohl Forscher, Walfänger und Robbenfänger diese gefährlichen Gewässer seit Jahrhunderten befuhren, war die Antarktis immer noch der Kontinent, auf dem die Menschheit die wenigsten Spuren hinterlassen hatte. Allein ihre extreme Unwirtlichkeit hatte sie gerettet. Als es sich nicht mehr rentierte, die letzten verbliebenen Wale ihres Trans und Fischbeins wegen umzubringen, hatte die Industrie dem Treiben endlich ein Ende bereitet. Irgendwann waren auch die Seebären durch skrupellose Plünderungen so dezimiert, dass sich dieses grausige Geschäft allmählich ebenfalls nicht mehr gelohnt hatte. Hunderte und Aberhunderte Tiere waren auf dem Eis hingeschlachtet worden, bis die Mütter tot und die Jungen dem Hungertod preisgegeben waren. Wohin auch immer die Menschen einen Fuß gesetzt hatten, war es zu einem so brutalen, so außergewöhnlichen Gemetzel gekommen, und so schnell, dass das, was die Mörder reich gemacht hatte, in hundert Jahren ausgerottet war.
    Die Gans, die goldene Eier legte, wurde immer und immer wieder getötet.
    Doch die eisige Beständigkeit des Südpols hatte letztlich alle potentiellen Eindringlinge aufgerieben. Das ewige Eis war undurchdringlich und duldete nur vorsichtige Annäherungen. Es gab Forschungsstützpunkte und -stationen wie Point Adélie,
die verstreut an der Küste des Antarktischen Ozeans lagen, aber sie glichen kleinen schwarzen Kieseln an einem weiten weißen Strand. Die meisten von ihnen, das hatte Michael bei den Abendessen in der Offiziersmesse erfahren, dienten weniger der Erforschung des Landes als vielmehr dazu, einen Anspruch auf das Land geltend zu machen – und auf die unendlichen Bodenschätze, die vielleicht darunter lagen.
    »Die Antarktis ist der einzige Kontinent, der keinem Staat angehört«, hatte Lieutenant Healey eines Abends erklärt, »und damit das so bleibt, wurde 1959 der Antarktisvertrag unterzeichnet. Der Vertrag erklärt die Antarktis, also jedes Gewässer und jede Landfläche südlich des sechzigsten Breitengrades, zur internationalen Zone. Atomfrei. Vierundvierzig Nationen haben das Abkommen unterzeichnet.«
    »Aber das hat Besetzer nicht abgeschreckt«, hatte Darryl gesagt und Kartoffelgratin auf seinen Teller gehäuft.
    Daraufhin hatte Lieutenant Healy wehmütig gelächelt. »Sie haben recht. Manche Staaten, einschließlich einiger Schwellenländer wie China oder Peru, haben sogenannte Forschungsstationen errichtet. Auf diese Weise wollen sie sicherstellen, dass sie an den Diskussionen über die Antarktis teilhaben – und an der Ausbeutung der Bodenschätze, die später vielleicht einmal stattfindet.«
    »Mit anderen Worten, sie haben sich, genau wie wir, in die Warteschlange eingereiht«, sagte Darryl, »damit sie dabei sind, wenn das Gerangel um die besten Plätze losgeht.« Er schob sich eine weitere Gabel Kartoffeln in den Mund, und bevor er sie ganz hinuntergeschluckt hatte, fügte er hinzu: »Und dazu wird es irgendwann kommen.«
    Michael zweifelte nicht daran, dass er recht hatte. Doch wenn er jetzt aus dem Fenster schaute, auf das gefrorene Panorama unter sich und auf die Sonne, die wie eine dicke Bronzekugel am Horizont zu kleben schien, fiel es ihm schwer, sich die bevorstehende
Katastrophe

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