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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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auszumalen. Das endlose Eis und die wogende See sahen aus, als würden sie für alle Ewigkeit unzugänglich bleiben. Im Westen konnte er die ersten Anzeichen einer Sturmfront ausmachen, von der der Kapitän gesprochen hatte. Dünne, graue Wolken bedeckten den Himmel und bewegten sich auf sie zu. Wie ein Leichentuch, das von unsichtbaren Fingern in Streifen gerissen wurde. Der Ozean begann sich ebenfalls zu regen, die sanften Wellen wurden höher und waren hier und dort mit Schaum bedeckt, und der Wind trieb Schwärme von Seevögeln vor sich her.
    Darryl war aufgewacht und richtete sich auf. Offensichtlich war seine Seekrankheit zu guter Letzt doch noch verschwunden, und seine Haut, blass wie bei allen Rothaarigen, war zumindest nicht länger grün. Er grinste Michael zu und streckte die Daumen in die Höhe. Charlotte studierte eine Faltkarte in ihrem Schoß.
    Michael sah, wie Diaz und Jarvis sich im Cockpit besprachen und ihre Skalen und Monitore checkten. Ein paar Sekunden später gewann der Helikopter an Höhe und, wenn er sich nicht täuschte, auch an Geschwindigkeit. Es war unmöglich, irgendetwas zu erkennen, außer der endlosen, gleichförmigen Eisfläche unter ihnen. In den nächsten zwanzig Minuten schien es, als wollte der Hubschrauber sein Bestimmungsziel so schnell wie möglich erreichen. Michael fragte sich, ob sich die Sturmfront womöglich schneller näherte als erwartet.
    Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Er war ziemlich müde, denn es war nicht leicht gewesen, an Bord des Eisbrechers zu schlafen. Die Maschinen dröhnten ständig, und die Schiffsschrauben knirschten, wenn sie Eisbrocken, so groß wie Busse, zermahlten, ganz zu schweigen von ihrem feuchtkalten, düsteren Quartier, das einen leichten Schimmelgeruch in seiner Kleidung hinterlassen hatte. Er bezweifelte, dass er mehr als ein paar Stunden geschlafen hatte, ohne wachgerüttelt zu werden oder, wie es mehr als einmal geschehen war, aus seiner Koje auf
dem Boden gefallen war. Egal wie seine Unterkunft in Point Adélie war, er freute sich darauf, in einem Bett zu schlafen, das nicht schaukelte und von dem nur wenige Meter entfernt der tödlichste Ozean der Welt an die Bordwand hämmerte und Einlass begehrte.
    Er fragte sich, ob sich Kristins Zustand verändert hatte. Es war merkwürdig, so unerreichbar zu sein, in jeder Hinsicht weit entfernt von allen Belangen seines normalen Lebens. Es stimmte, dass er sich eine Auszeit genommen hatte, von seinen Freunden, der Familie und der Arbeit. Nach dem Unfall hatte er sich in seinem Elend vergraben. Der Anrufbeantworter fing die Anrufe ab, und sein Internetprovider sammelte seine E-Mails. Doch er wusste, dass er es herausgefunden hätte, wenn sich irgendetwas Schreckliches ereignet hätte. Die Welt, oder zumindest Kristins kleine Schwester, hätte seine Mauern durchbrochen und ihm irgendwie eine Nachricht zukommen lassen. Aber dort, wo er jetzt hinfuhr, würde jede Art normaler Kommunikation schwierig sein, und seine Möglichkeiten, rasch zu reagieren, waren gleich null. Vom unzugänglichsten Teil dieses Planeten aus, Tausende Kilometer entfernt, konnte er nicht mal eben ans Krankenbett, oder schlimmer, zum Friedhof eilen.
    Das Schreckliche daran war, dass er, wenn er ganz ehrlich zu sich war, darüber erleichtert war. Seit Reiseantritt war es, als würde seine Last leichter, als sei ihm eine Atempause vergönnt von dem Gefühl, ständig in Bereitschaft zu sein. Monatelang hatte er sich ausgeschlossen gefühlt, wie rund um die Uhr auf Wache, und war unfähig gewesen, sich vorwärts zu bewegen, ohne ständig zurückzuschauen. Es gab manches, was gesagt werden musste, auch wenn er es nicht schaffte, wegen der körperlichen Hindernisse. Sie nahmen ihm praktischerweise die Verantwortung ab.
    Der Hubschrauber wurde vom Wind hin und hergeworfen. Ohne den Kopf zu bewegen, öffnete Michael ein Auge. Die Szenerie draußen hatte sich vollkommen verändert. Aus den dünnen
Wolken war eine über den Himmel jagende Geisterarmee geworden. Der Ozean tief unten wurde fast vollständig von wirbelnden Nebelschwaden verhüllt, und die Trennlinien zwischen Eis und Luft verschwammen zunehmend. Michael wusste, dass das eine der größten Gefahren der Antarktis war, das ganze Universum konnte sich innerhalb weniger Minuten auf eine blendend weiße Waschküche reduzieren. Bei solchem Wetter sanken Schiffe und stürzten Forscher in unsichtbare Gletscherspalten. Piloten, die die Orientierung verloren hatten,

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