Eisiges Blut
sagte ihm, dass sie von sich selbst sprach, nicht von ihm.
»Nein. Und du?«
Sie legte den Kopf auf die Seite, ohne ihm in die Augen zu schauen. Er musste an die Nacht in der Schneeschule denken, als sie in den selbstgebauten Schneehütten schlafen mussten.
»Wie hast du denn das Iglutraining geschafft?«, fragte er.
»Hat Darryl es dir nicht erzählt?«
»Was soll er mir erzählt haben?«
»Der Junge kann wirklich ein Geheimnis für sich behalten«, sagte sie anerkennend. »Ich bin nie reingegangen.«
Michael war verblüfft. »Jetzt sag nicht, dass du zur Station zurückgegangen bist.« Allein der Gedanke an so einen Leichtsinn entsetzte ihn.
»Nee. Ich hatte etwa achtzehn Schichten Stoff in meinem Schlafsack, und die Füße steckten im Tunnel. Ich hatte Angst, Darryl könnte ersticken, wenn ich noch weiter hineingekrochen wäre.«
Jetzt, wo er ihre Phobie kannte und wusste, dass sie sich davon nicht unterkriegen und sich nichts anmerken ließ, bewunderte Michael sie nur noch mehr.
Und Darryl ebenfalls, dafür, dass er ihr Geheimnis bewahrt hatte.
»Mein Walkie-Talkie wird den ganzen Tag auf Empfang geschaltet sein«, sagte Charlotte, »falls ihr da draußen irgendetwas braucht.«
Etwas anderes hatte er auch nicht erwartet.
»Seid vorsichtig, du und Darryl. Passt da unten auf euch auf. Und lass dich nicht von Darryl herumkommandieren.«
»Ich werde es ihm ausrichten.« Dann zog er wieder all die Sachen an, die er draußen brauchte, verließ die Krankenstation und machte sich auf den Weg zur Tauchstelle.
Um dorthin zu kommen, musste er einen Spryte besteigen, eine anspruchslose Kreuzung aus einem Traktor und einem Hummer, der einen Nansen-Schlitten zog, der mit einem Teil der zusätzlichen Tauchausrüstung beladen war. Darryl saß neben ihm und
sah aus wie ein Kind auf dem Weg ins Disneyland. Ihre Karawane kam auf dem Eis nur langsam voran, doch nach zehn Minuten entdeckte Michael die Tauchhütte aus Fertigteilen. Einem Gartenschuppen nicht unähnlich stand sie am Ende der Welt. Davor wehte eine schwarz-weiße Flagge. Die Hütte war in einem unglaublichen Pink gestrichen, wie eine blasse Sommerrose. Ein paar Leute von der Station schaufelten frischen Schnee um das Fundament auf, um den Wind abzuhalten. Der Boden ruhte etwa dreißig Zentimeter über dem Eis auf Schlackensteinen.
Als sie näher kamen, verrenkte Darryl sich den Hals, um aus dem Spryte zu schauen, und trommelte nervös mit den Fingern auf den Knien. Sie würden sich in der Hütte ausziehen und in den Tauchanzug steigen müssen. Sobald sie einmal in dem wasserdichten Anzug steckten, würden sie vor Hitze umkommen, wenn sie nicht so schnell wie möglich ins Meer gelangten. Unabhängig von der Tiefe oder der Jahreszeit hatte das Wasser eine gleichbleibende Temperatur von etwa einem halben Grad.
Der Mann, der ihnen zuwinkte, musste Franklin sein, auch wenn der Schnauzbart alles war, was unter der Pelzkapuze zu erkennen war.
»Ein netter Tag zum Schwimmengehen«, sagte er und riss die wackelige Tür des Sprytes auf. Darryl stürzte als Erster heraus und rutschte prompt auf dem glatten Eis aus. Michael folgte ihm, während Franklin begann, die Ausrüstung vom Schlitten zu laden. Sie gingen direkt in die Hütte, und es war, als beträten sie eine Trockenkammer. An Metallträger waren Heizstrahler montiert, und eine beeindruckende Menge Ausrüstung hing von den vollgestopften Wandregalen an allen vier Wänden.
Doch am bemerkenswertesten war das runde Loch in der Mitte der Hütte, vielleicht ein Meter achtzig im Durchmesser, das wie ein großer Whirlpool aussah. Über der Öffnung lag ein Stahlgitter, um zu verhindern, das jemand versehentlich oder vorzeitig hineinfiel. Michael konnte nicht anders und warf einen Blick auf
das dunkelblaue Wasser mit den kleinen schimmernden Eisstückchen, das ihn da unten erwartete.
Calloway, ein Kerl mit trockenem Humor und ausgeprägtem australischem Akzent, sagte: »Moin, Kumpels. Ich bin heute euer Tauchleiter.« Von Lawson und den anderen hatte Michael gehört, dass Calloway gar kein richtiger Aussie war. Vor vielen Jahren war das seine Masche gewesen, um bei Mädchen zu landen, und später hatte er vergessen, den Akzent wieder abzulegen. »Jetzt legt mal einen schönen Striptease hin und lasst uns anfangen. Es gibt noch viel zu tun.«
Das war die Untertreibung des Jahres. Michael hatte schon oft getaucht und kannte die langwierige Prozedur, bis er endlich im Anzug steckte und die Ausrüstung angelegt
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