Eisiges Blut
tat es ihm gleich und verschwand mit den Füßen zuerst im Kaninchenloch.
Die Eiskappe war etwa zweieinhalb Meter dick, und das Loch, das der Eisbohrer geschaffen hatte, war oben breiter als unten. Es war, als glitte er durch einen Tunnel abwärts, und Michael
spürte, wie er mit den Füßen durch eine dünne Schicht aus Eiskristallen stieß, die schon wieder zusammengefroren waren, seit Darryl hier durchgekommen war. Er tauchte in eine Wolke aus wirbelnden Eisbröckchen und Luftblasen ein und es dauerte ein paar Sekunden, bis das Wasser so klar wurde, dass er etwas erkennen konnte.
Er schwebte leicht versetzt etwa vier Meter unter dem Tauchloch und befand sich in einer blauen Welt, in dem es weder Grenzen noch räumliche Dimensionen zu geben schien. Er hatte das Gefühl, unendlich weit sehen zu können, was daran lag, dass es hier im Wasser, vor allem zu dieser Zeit des Jahres, weniger Plankton und sonstige Partikel gab als sonst irgendwo auf dem Globus. Das Sonnenlicht drang nur schwach durch die Eiskappe, so dass das Sicherheitsloch vor ihm wie ein Leuchtfeuer wirkte, das die Sonnenstrahlen in die Tiefe schickte. Drei lange Leinen mit dreieckigen Plastikwimpeln führten vom Rand des Loches in die unsichtbare Tiefe.
Michael hatte sich auf den Schock des eiskalten Wassers vorbereitet, doch er wurde angenehm überrascht. Hatte er sich über dem Eis noch unglaublich plump und überhitzt gefühlt, so war ihm hier unten behaglich warm. Im Wasser fielen ihm nicht nur die Bewegungen leichter, sondern es kühlte auch die äußeren Schichten. Er war eindeutig erleichtert, sich im antarktischen Ozean zu befinden. Kein Wunder, dass Darryl so schnell untergetaucht war. Aber er hatte den Verdacht, dass das, was er im Moment noch als angenehm kühlend empfand, bald kalt werden würde, und eiskalt, noch ehe die Stunde vorüber war.
Er warf einen Blick nach unten und sah Darryl bereits mit kräftigen Bewegungen seiner Tauchflossen in der Tiefe verschwinden. Offensichtlich wollte Hirsch keine Sekunde der kostbaren Zeit vergeuden. Das Wasser war ruhig und fast vollkommen frei von jeglichen Strömungen oder Gezeiten, die in manchen Meeren einen Taucher unbemerkt weit von seiner Tauchstelle abdriften
lassen konnten. Es war ein großartiges blaues, stilles Reich, in dem Michael zuerst nichts anderes hörte als das aufdringliche Klappern seines eigenen Reglers.
Unterhalb der Tauchhütte fiel der Meeresboden ab und Michael folgte der sanften Böschung. Gletscher hatten den Boden abgerieben und auf ihrem Weg tiefe Furchen hinterlassen. Felsbrocken waren meilenweit mitgeschleift worden und schließlich wie Murmeln weit verstreut liegen geblieben. Als er sich dem Boden näherte, konnte er die Myriaden von Lebensformen erkennen, die diese scheinbar karge Meereslandschaft bevölkerten. Der Boden wies die verräterischen Spiralen und Schnörkel von Mollusken und Schalentieren, Seeigeln und Schlangensternen auf. Napfschnecken hingen wie kleine Wimpel an den mit Algen bedeckten Seiten der Felsen, während Seesterne, von denen manche in Haufen übereinanderlagen, ruhig nach Venusmuscheln im Schlamm suchten. Eine Seespinne, so groß wie Michaels Hand mit gespreizten Fingern, schien auf ihren acht Beinen breitbeinig dazustehen und ihn zu beobachten. Michael schwebte im Wasser, hob seine Kamera und machte mehrere Aufnahmen. Außer einem rostroten Kopf mit den Augen und dem Hals schien die Kreatur fast keinen Körper zu besitzen. Das hintere Körpersegment sah aus, als sei es mit den Beinen verschmolzen. Doch Michael wusste, dass der Saugrüssel der Seespinne eine tödliche Waffe war, mit der sie im Schlamm nach ihren Opfern, Schwämmen und Korallen, suchte. Sobald sie ihre Beute durchbohrt hatte, saugte sie in einem langen, tödlichen Kuss die Flüssigkeit und das Fleisch aus ihrem Opfer. Als Michael an ihr vorbeischwamm, wurde die Spinne von der Wasserbewegung seiner Tauchflossen getroffen, schwankte und fiel in Zeitlupe. Als er sich umdrehte, rappelte sie sich gerade wieder auf, bereit, den nächsten unglücklichen Passanten aufzuspießen.
Darryl befand sich unterhalb von ihm. In einer Hand hielt er ein Netz, die andere ruhte auf einem Stein von der Größe eines
Basketballs. Als Michael sich ihm näherte, bedeutete er mit einem Kopfnicken und einer Geste, dass Michael den Stein umkippen sollte. Michael ließ die Kamera lose an seinem Hals baumeln, während er den Felsbrocken mit beiden Händen erst zur einen Seite und dann zur anderen
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