Eisiges Blut
schob. Als der Stein endlich zur Seite rollte, hastete ein Schwarm fingernagelgroßer Flohkrebse mit winkenden Fühlern und hektischen Beinbewegungen darunter hervor. Viele von ihnen landeten in dem Netz, das Darryl geschickt in einen durchsichtigen Plastikbeutel ausleerte. Darryl streckte die Daumen in die Höhe, so gut es mit den dicken Handschuhen eben ging, und winkte ihm wie zum Abschied zu. Michael verstand den Hinweis. Darryl konnte keinen weiteren Aufruhr um sich herum gebrauchen, während er Proben sammelte und die Unterwasserwelt beobachtete.
Auch Michael wollte ungehindert seinen eigenen Job erledigen und machte sich allein auf Entdeckungsreise. Eine Weile trieb er sich bei einem Klumpen von etwas herum, das wie ein Haufen Würmer aussah. Jeder war etwa einen Meter lang, und sie wanden sich um ein Stück fast verzehrten Aas. Er machte ein paar Fotos und nahm sich vor, Darryl später zu bitten, ihm zu erklären, was das war.
Als er sich noch weiter von der Oberfläche entfernte, schwand das Licht, und der Meeresboden wich allmählich einem Feld von Bergkämmen aus Eis, bis er aussah wie ein riesiges zerknülltes Blatt Papier. Von der Seite kam plötzlich ein dunkler Schatten ins Blickfeld, und als Michael durch die Tauchmaske spähte, sah er ein Paar große perlenartige Augen, umgeben von langen schwarzen Barthaaren, die seinen Blick erwiderten.
Es war eine Weddellrobbe, neben dem Zwergwal das am tiefsten tauchende Säugetier in diesen Gewässern, und sie schien zu wissen, dass Michael ihr nichts antun würde. Als dieser seine Kamera anhob, zog sich die Nickhaut, die die Hornhaut des Auges schützte, zusammen, und die Barthaare richteten sich wie zu einem
Fächer auf.
Bereit fürs Portrait
, dachte Michael und machte eine ganze Serie von Bildern.
Die etwa einen Meter sechzig lange Robbe schnipste einmal mit den Flossen und schoss an Michael vorbei, während sie sich immer wieder nach ihm umschaute. Dann wartete sie eine Weile, als hoffte sie darauf, dass ihr seltsamer neuer Bekannter ihr folgte, ehe sie weiterschwamm.
Okay
, dachte Michael,
ich bin dabei
. Das konnten ein paar phantastische oder amüsante Fotos für seinen Artikel werden. Er bewegte seine Tauchflossen, um dem Tier zu folgen. Die Robbe mit dem glatten, makellosen Fell und den weißen gesunden Zähnen eines Jungtiers drang noch weiter in die Dunkelheit vor. Michaels Sauerstoffflasche zischte und gurgelte, als er der Robbe um einen verrotteten Eisblock von der Größe eines Kabinenkreuzers herum folgte, bis sie eine mit roten und braunen Algen bedeckte Felszunge erreichten.
Unter ihm tat sich ein wahrer Abgrund auf, und er spürte, dass er aufpassen musste, um nicht zu weit zu gehen. Er heftete seinen Blick auf den jäh abfallenden Boden. Im schwachen Licht, das von einem Bruch im Eis über ihm nach unten drang, entdeckte er etwas, das ganz und gar nicht hierher zu gehören schien. Es war quaderförmig und so ordentlich, dass es aussah wie eine Truhe, obwohl es über und über mit Eis verkrustet war. Die Robbe zog träge ihre Kreise darum, als hätte sie ihn genau hierher geführt.
Mein Gott
, dachte Michael,
versunkene Schätze? Das kann nicht sein. Nicht hier. Nicht am Südpol
.
Er bewegte seine Flossen und näherte sich rasch. Trotz der Anstrengung begann die Kälte langsam durch die Schichten seiner Tauchausrüstung zu kriechen. Kurz oberhalb des Quaders hielt er inne und wedelte träge mit dem Arm im Wasser. Unter dem Eis bedeckte eine Schicht aus Napfschnecken, Seeigeln und Seesternen die Seiten. Ein elfenbeinfarbener Seestern ruhte wie die Hand eines Skeletts ausgebreitet auf dem Deckel. Trotzdem konnte
er erkennen, dass es sich eindeutig um eine Truhe handelte, deren Deckel aufgeklappt war. Instinktiv nahm er seine Kamera zur Hand und machte ein halbes Dutzend Aufnahmen.
Die Robbe über ihm schien eine Arabeske zu tanzen.
Michael tauchte tiefer, bis er in das Innere der Truhe spähen konnte. Eissplitter quollen heraus wie Münzen aus Kristall, doch darunter konnte er etwas Dunkleres erkennen. Es hatte die Farbe einer Pflaume und glitzerte.
Er ließ den Blick von links nach rechts wandern und suchte den Meeresboden ab. Auf der einen Seite fiel das Meer in einen bodenlosen Abgrund ab, auf der anderen, vielleicht hundert Meter entfernt, sah er eine glatte Eiswand, die sich von der Eiskappe oben bis zu einer Tiefe erstreckte, in die er nie gelangen würde. Zwischen seinem jetzigen Standpunkt und dem drohend aufragenden Gletscher
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