Eisiges Blut
nicht sagen können, warum, und mehrere Sekunden schien die Zeit vollkommen stillzustehen. Erst als einer der Billardspieler unter ihnen in Jubelgeschrei ausbrach – »Das nenne ich einen Stoß, Reynolds!« –, trat sie mit prickelnden Lippen und brennendem Gesicht einen halben Schritt zurück, um den jungen Leutnant noch einmal anzusehen.
16 . Kapitel 8 .Dezember, 10 : 00 Uhr
»Unmöglich, unmöglich, unmöglich«, sagte Murphy, als er den Flur entlang und in sein unaufgeräumtes Büro im Hauptgebäude ging. Michael folgte ihm dicht auf den Fersen, zusammen mit Darryl, der ihm zur Seite stand.
»Es ist nicht nur möglich«, beharrte Michael noch einmal, »ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Genau vor mir.«
Murphy drehte sich um und sagte mit einem Ton, der Besorgnis zum Ausdruck brachte. »Sieh mal, das war doch das erste Mal, dass du in polaren Gewässern getaucht bist, oder?«
»Was hat das denn damit zu tun?«
»Es kann eine überwältigende Erfahrung sein, und das gilt für eine Menge Leute, nicht nur für dich. Die Wassertemperatur, die Eiskappe über dir, die ungewohnten Viecher da unten … du hast selbst gesagt, dass du einer Weddellrobbe ziemlich nahe gekommen bist.«
»Willst du damit sagen, dass ich die Frau im Eis mit einer Robbe verwechselt habe?«
Murphy machte eine Pause, damit alle sich etwas beruhigen konnten.
»Nein.« Und dann: »Vielleicht. Wahrscheinlich hast du nicht richtig auf die Zeit oder die Sauerstoffzufuhr geachtet. Du hast bestimmt schon vom Tiefenrausch gehört. Vielleicht hat es dich da unten erwischt. Ich kannte einen Typ, der schwor, er habe
ein U-Boot gesehen, aber dann stellte sich heraus, dass es nur ein hübscher großer Felsen gewesen war. Du hast Glück, dass du wieder zur Besinnung gekommen und aufgetaucht bist, solange du noch konntest. Und du«, fuhr er an Darryl gewandt fort, »hättest ihn besser im Auge behalten sollen. Ihr beide seid erfahrene Taucher, und das bedeutet, dass man aufeinander Acht gibt und zusammenbleibt.«
»Hab’s kapiert«, sagte Darryl kleinlaut. »Aber Tatsache bleibt, dass er die Weinflasche mit nach oben gebracht hat. Sie ist jetzt in meinem Labor und taut auf. Du kannst die Existenz dieser Flasche schlecht leugnen.«
»Aber es ist ein gewaltiger Unterschied«, sagte Murphy und ließ sich auf seinen Drehstuhl mit der hohen Lehne fallen, »ob man eine Flasche Wein gesehen hat oder eine in Ketten gefesselte Frau, die in einem Gletscher feststeckt.«
Michael hasste es, das sagen zu müssen, aber es musste einfach sein. »Und sie ist vielleicht nicht allein.«
»Wie bitte?« Murphy explodierte fast.
»Vielleicht ist da noch jemand mit ihr eingefroren.«
Selbst Darryl, für den dieser Teil der Geschichte ebenfalls neu war, zögerte.
»Aber mehr Eisleichen gibt es da unten nicht, oder?«, sagte Murphy. »Vielleicht sind sie auch gerade aus dem Bus gestiegen, und der Bus steckt jetzt ebenfalls im Gletscher fest.«
Es gab eine kurze Pause, als Murphy eine Magentablette auspackte und in den Mund schob.
»Hast du Bilder von der Robbe gemacht?«
»Ja«, antwortete Michael und ahnte, worauf er hinauswollte.
»Und von der Seespinne? Und dem Schuppenwurm? Und der Truhe, aus der die Flasche stammte?«
»Ja.«
»Und warum hast du die Eisprinzessin nicht fotografiert?«
»Ich hatte zu große Angst.« Die Worte schmeckten in seinem
Mund wie Asche, und schon als man ihn in die Tauchhütte gezogen hatte, hatte er sich gefragt, wieso er ausgerechnet im entscheidenden Moment seiner Karriere keine Fotos gemacht hatte. Doch der Schock war einfach zu groß gewesen, und außerdem musste er unbedingt auftauchen. Obwohl er wusste, dass das eine ziemlich gute Entschuldigung war, war er maßlos von sich selbst enttäuscht. Diesen Fehlschlag konnte er nur dadurch wiedergutmachen, indem er noch einmal nach dort unten ging.
»Warum erledigen wir das nicht auf die einfachste Weise?«, fragte Michael. »Lass mich noch einmal zum Ort des Verbrechens zurückkehren.«
»So einfach ist das nicht.«
»Warum nicht?«, wollte Michael wissen, und Darryl mischte sich ein: »Ich würde auch mitkommen.«
Murphy blickte von einem zum anderen. »Ihr glaubt vielleicht, wir befänden uns hier am Ende der Welt, wo uns niemand über die Schulter schaut. Aber da täuscht ihr euch. Über alles, was wir hier treiben, muss ich einen Bericht schreiben und ihn an die NSF , die US -Navy, die Küstenwache oder, ob ihr’s glaubt oder nicht, die NASA schicken. Versteht
Weitere Kostenlose Bücher