Eisiges Blut
vorher eine Treppe hinauf, von der Eleanor vermutete, dass sie allein den Bediensteten vorbehalten war. Vorsichtig öffnete Sinclair eine Tür und legte den Finger auf die
Lippen, als zwei Herren mit weißen Bindern und Brandygläsern in der Hand vorüberschlenderten.
»Nicht einmal, wenn der Admiral es Ihnen befehlen würde?«, fragte der eine, und der andere antwortete: »Dann gerade nicht!«, und beide Männer lachten.
Sobald sie verschwunden waren, öffnete Sinclair die Tür ganz und führte Eleanor hindurch. Sie befanden sich am Ende eines schmalen Treppenabsatzes und blickten in eine gewaltige Eingangshalle mit schwarz-weißen Marmorfliesen. Auf jeder Seite schwang sich eine Treppe in die Höhe. Dort, wo sie sich vereinten, hing ein riesiger Wandteppich mit der Darstellung einer Hirschjagd. Mittlerweile waren die Farben verblasst, doch einst musste er in strahlenden Rot- und Blautönen geknüpft worden sein; eine zerfetzte goldene Einfassung bildete den Rand.
»Er kommt aus Belgien«, flüsterte Sinclair »und ist sehr alt.«
Immer noch hielt er ihre Hand fest. Noch nie zuvor hatte jemand sie so lange und besitzergreifend festgehalten, und Eleanor wusste nicht, wie sie auf ein derartiges Betragen reagieren sollte. Doch da zog er sie schon weiter und ließ sie einen Blick in das Kartenzimmer werfen. Mehrere Männer waren so in ihr Spiel vertieft, dass niemand aufblickte, als sich die Tür öffnete. Als Nächstes zeigte er ihr die prachtvolle Bibliothek mit vier Meter hohen Bücherregalen aus indischem Atlasholz, alle bedeckt mit in Leder gebundenen Büchern. Dann führte er sie in einen Trophäenraum mit verschiedensten Silbertellern und -tassen und einer wahrhaften Menagerie ausgestopfter Tierschädel mit gläsernen Augen, die in die Ewigkeit starrten. Drei- oder viermal mussten sie in einen Alkoven ausweichen oder sich hinter Türen verstecken, damit ein vorübereilender Diener oder ein Clubmitglied sie nicht entdeckte. Bei einer dieser Gelegenheiten flüsterte Sinclair ihr zu: »Dieser Clown mit dem dicken Bauch ist Fitzroy. Ich habe ihn einmal verprügelt, aber ich fürchte, ich muss es noch einmal tun.«
Nachdem Fitzroy vorübergegangen war und einen Rülpser mit dem Handrücken erstickt hatte, zog Sinclair sie aus ihrem Versteck hervor. »Hier entlang. Nur noch ein Zimmer.«
Sie waren im dritten Stock, und Eleanor hörte ein hartes, ungewohntes klackerndes Geräusch. Sinclair führte sie eine enge, mit Teppichen ausgelegte Treppe hinauf zu einer kleine Nische mit einem Samtvorhang. Wieder legte er den Finger an die Lippen, dann ließ er endlich ihre Hand los und zog den Vorhang ein paar Zentimeter auseinander.
Sie standen auf einem winzigen Balkon, dessen Eisengeländer mit fein gearbeiteten Schnörkeln verziert war. Unter ihnen befanden sich ein halbes Dutzend Billardtische, die sich wie tiefgrüne Rasenstücke über die getäfelte Säulenhalle verteilten. Gespielt wurde lediglich an zwei Tischen. Die Männer an dem einen Tisch trugen nur ihre Hemden, und die Hosenträger hingen lose herunter. Bei dem Anblick errötete Eleanor. Einer der Spieler stieß eine weiße Kugel an. Sie rollte ruhig über den Tisch und prallte auf eine rote, ehe sie sanft die Bande berührte.
»Guter Stoß«, sagte sein Gegner.
»Wenn das Leben doch nur ein Billardtisch wäre«, gab der Spieler zurück und hielt inne, um die Spitze des Stockes mit etwas einzureiben.
»Aber das ist es doch! Hat man Ihnen das nicht gesagt?«
»An dem Tag muss ich Urlaub gehabt haben.«
»Wie meistens«, erwiderte der erste lachend.
War das die Art, wie Männer sich unterhielten? So benahmen sie sich, wenn sie unter sich waren? Eleanor war fasziniert und verlegen zugleich. Sie sollte nicht hier sein, sollte nichts von alledem hören oder sehen. Aus Angst, man könnte sie hören, wagte sie nicht zu sprechen, doch sie blickte Sinclair an. Er drehte sich zu ihr um. Hier auf dem engen Balkon, verborgen hinter dem kaum geöffneten Vorhang, spürte sie die Intensität seines Blickes und schlug die Augen nieder. Warum nur hatte sie ein zweites Glas
Champagner getrunken? Sie war immer noch benommen davon. Sie spürte, wie sein Finger ihr Kinn berührte und es anhob. Sie ließ es zu. Er beugte sich zu ihr hinunter und sie bemerkte hauptsächlich seinen hellen Schnurrbart. Und dann, obwohl sie sicher war, dass sie ihn nicht dazu ermutigt hatte, berührte sein Mund ihre Lippen, ohne dass sie sich dagegen sträubte. Sie schloss die Augen, sie hätte
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